Als wir den südlichen Teil der Ringstraße erreichen, fällt es auf, dass die Häuser, Straßen und Kirchen bestens in Schuss sind. Das kommt nicht von ungefähr und hat eine schreckliche Vorgeschichte. Im Jahr 2009 ereignete sich 190 Km vor der Südwestküste ein verheerendes Seebeben mit der Stärke 8,0 auf der Richterskala. Über 300 Menschen fanden im darauffolgenden Tsunami den Tod, ganze Dörfer und große Teile der Infrastruktur wurden nahezu vollständig zerstört. Mit internationaler Hilfe wurden in den folgenden Jahren Häuser, Straßen, Kirchen und öffentliche Einrichtungen wieder neu errichtet. Kirchen gibt es auf Samoa wie Sand am Meer. Alle pazifischen Inseln erlebten in der Kolonialzeit und auch schon davor eine ganz andere Art von Tsunami, die Christianisierung, bzw. Missionierung. Das Resultat ist heute in nahezu jedem Dorf sichtbar: Anglikanische, protestantische und katholische Kirchen, aber auch Gottes- und Gemeinschaftshäuser von Frei- und sektoralen Kirchen prägen das Straßenbild entscheidend mit. Hinduistische, buddhistische, muslimische Gebetshäuser sind hingegen kaum zu sehen.
Die Faofao Beachfales liegen in der Nähe des Dorfes Lepa, das ebenfalls durch den Tsunami zerstört wurde. An die zehn Hütten liegen entlang des Strandes, nur wenige Meter vom Meer entfernt. Das große Gästefale ist auf der anderen Seite der Straße.
Am ersten Morgen mache ich mich auf den Weg zum To-Sua Ocean Trench nahe der Ortschaft Lotofaga, weiter im Westen der Insel. Ich stelle mich an die Straße, halte meinen Daumen nach oben und schon nach wenigen Minuten hält ein Minibus neben mir an. Als ich einsteige bemerke ich, dass das Fahrzeug komplett leer ist. Der Fahrer erläutert mir, dass er gerade Mittagspause hätte und auf dem Weg zum Hotel wäre, um eine Gruppe Touristen abzuholen. Erst als ich mich neben ihn setze, sehe ich, dass ein halbes Hähnchen und gut ein halbes Kilo Taro neben ihn auf der Mittelkonsole liegen. Er bietet mir eine Flasche Mineralwasser an und isst nebenher laut schmatzend sein Mittagessen. Die linke Hand trieft bereits vor Fett. Aber diese Art der Mittagspause scheint für ihn nichts Ungewöhnliches zu sein. Routiniert zieht er ein Feuchttuch aus dem Handschuhfach, während er zwischenzeitlich mit seinen Füßen das Fahrzeug steuert, und säubert sich damit seine Hände. Weil er ja immer noch Pause, sprich Zeit hat, fährt er mich auch noch die Stichstraße hinunter zum To-Sua. Samoanisch heißt To-Sua übersetzt das große Loch. Das ist ein sehr treffender Begriff, für das, was ich einige Minuten später zu sehen bekommen werde: Eine, im Durchmesser ca. 20 Meter große und 20 Meter tiefe Einbruchstelle im Lavagestein. Über eine sehr steile und dazu noch überaus rutschige Leiter steige ich nach unten. Das Wasser ist klar und türkisblau. Einmal ins kühle Nass gesprungen fühle ich mich wie in einer Höhle ohne Dach und von einem üppigen, tropischen Garten umgeben. Alles was um mich war, ist plötzlich verschwunden.
Das Becken hat eine unterirdische Verbindung zum Meer und ist daher partiell eher salzig. Andere Stellen werden vom eindringenden Grundwasser, also Süßwasser gespeist. Von dem „großen Loch“ gibt es eine Verbindung zu dem darunter und ca. 100 Meter entfernt liegenden Ozean. Das anstehende Lavagestein wurde von der Brandung des Meeres rückschreitend erodiert und durch einen Verbindungskanal wird immer noch Wasser aus dem Ozean durch ein oder mehrere Löcher in den Pool gedrückt. Da es gerade zum Regnen anfängt, bin ich der einzige, der im Pool schwimmt. Erst als der Regen weniger wird kommen einige einheimische Touristen die Leiter heruntergeklettert. Ich schwimme noch in die vom Becken aus zugängliche Höhle. Eine junge Frau zieht sich an einem Seil, das über die gesamte Wasserfläche in Form eines Ypsilons gespannt ist bis ganz nach hinten. In diesem Nebenraum ist es absolut still, der Regen plätschert draußen auf die Wasseroberfläche, die ersten Sonnenstrahlen erreichen die gegenüberliegende Wand und lassen die Pflanzen dort üppig grün leuchten. Ich schwimme zurück zur Plattform, ziehe mir trockene Kleider an und steige danach wieder die glitschige Leiter hinauf. Oben angekommen wartet schon eine weitere Gruppe von Einheimischen auf ihren Abstieg hinab in dieses Wunder der Natur.
Ich laufe zurück zur Ringstraße und dann weiter die Verbindungsstraße, die mitten durch die Insel in Richtung Hauptstadt führt. Gleich nach der Abzweigung geht es den Berg hinauf zum Wasserfall von Sopoaga, der nur ca. fünf Kilometer entfernt liegt. Noch spüre ich die Leichtigkeit, die mir das Schwimmen im Toa-Sua beschert hat. Mittlerweile ist es bereits Mittag, die Sonne steht im Zenit, die Bäume neben der Straße bieten keinerlei Schatten. Die Sonneneinstrahlung wird mit der Anstrengung gefühlt intensiver, die hohe Luftfeuchtigkeit tut das Ihrige dazu. Die Leichtigkeit verfliegt, die Schritte werden schwerer und langsamer. Nach einer halben Stunde höre ich das Geräusch eines Motors in meinem Rücken. Es ist der Linienbus nach Apia, der sich den Hügel heraufquält. Ich winke mit beiden Händen rotierend bis er endlich vor mir stehen bleibt. Ich steige ein und kann das erste Mal den herzzerreisenden Südsee-Pop auch in dieser Lautstärke genießen.
Der Wasserfall wäre was für Siggi gewesen. Aber nur um seine negativen Erfahrungen mal wieder durch eine eindrucksvolle positive zu kompensieren. Er liegt am Ende eines Flusstales, wo das Wasser aus einer Höhe von ca. 50 Metern von der Hochebene nach unten rauscht. Da er auf Gemeindegrund liegt, wird wieder ein Eintrittsgeld fällig. Aber hier oben haben sich offensichtlich keine älteren Herrschaften gefunden das Kassenhäuschen zu besetzen, so dass ich, wie auf dem Schild geheißen, das Eintrittsgeld in die dazu vorgesehene Honesty-Box werfe. Ich sitze noch eine Weile und beobachte das nach unten stürzende Wasser und seinen Verlauf entlang des tief eingeschnittenen Flusstales mitten durch den tropischen Regenwald, dann mache ich mich wieder auf den Weg zurück zu den Beachfales.
Den nächsten Tag verbringe ich faul am Strand und genieße das angenehm warme Wasser des Ozeans. Keine Ausflüge, nicht einmal Spaziergänge, nur Kokosnusswasser trinken, essen, lesen, Musik hören und aufs Meer hinausschauen.
Am Morgen danach verlasse ich Faofao, um mit dem Bus Richtung Osten zu der etwa zehn Kilometer entfernten Insel Namua zu fahren. Die Insel liegt einen Kilometer vor der Küste entfernt. Von einer provisorischen, aus Holz zusammengenagelten Anlegestelle bringt mich ein Halbwüchsiger mit einem kleinen, von einigen Schweißnähten zusammengehaltenen Klumpen Alu auf die Insel. Eigentlich ist die Insel ein einziger aus dem Wasser herausragender Berg, vollständig überzogen mit tropischen Regenwald. Nur auf einer kleinen gerodeten Fläche von 100 mal 30 Metern lässt sich so etwas wie Zivilisation erahnen. Dort befinden sich die Beachfales von Namua. Die acht Hütten stehen sichelförmig entlang des Strandes, dahinter ist eine kleine Versorgungshütte mit einem überdachten Essensplatz. Zwei Männer Anfang Zwanzig regeln das Geschäftliche und wie sich später herausstellt auch das Kulinarische. Außer den beiden bin nur ich, drei weitere Touristen und der für den Bootstransfer zuständige Junge auf der Insel. Alles sehr übersichtlich, ruhig, aber durchaus mit romantischen Beigeschmack. Der feine, etwa zehn Meter breite Sandstrand fällt flach in das Meer. Kurz nach meiner Ankunft kommt es zu einem Regenguss, der es in sich hat. Eine halbe Stunde prasselt das Wasser wie aus einem Maschinengewehr gefeuert auf unsere Hütten herab. Eine viertel Stunde später strahlt der Himmel wieder wolkenlos blau, als wäre niemals etwas anders gewesen. Die beiden jungen Männer fragen uns was wir zum Essen möchten und fahren mit unserem Bestellzettel – darauf sind auch einige Flaschen Vailima vermerkt – hinüber auf die Hauptinsel und servieren uns zwei Stunden tatsächlich auch ein ganz passables Essen, allerdings mit dem faden Beigeschmack von warmen Bier. Wir hatten es versäumt auf dem Zettel zu vermerken, dass wir kaltes Bier möchten. Am nächsten Tag nach dem Frühstück bringen mich zwei Burschen wieder, mit dem was ich nicht als Boot bezeichnen will, zurück zur Anlegestelle. Unterwegs sehen wir zwei Wasserschildkröten unter unserem Gefährt hindurchtauchen. So langsam sie sich auf dem Land auch bewegen, hier im Wasser sind sie mindestens die Tourenwagenfahrer in der Welt des Mototrennsports.
Als wir anlegen sehe ich aus der Ferne einen Pick-up auf mich zukommen: Mein nächster Lift. Der Fahrer, ein älterer Herr, erzählt mir vom großen Tsunami: „Es war das erste Mal, dass ein Tsunami die Insel heimgesucht hatte. Keiner wusste, was das ist oder welche Gefahren von ihm ausgehen. Im Gegenteil. Als sich das Meer kurz vorher weit zurückzog und ein Riesenloch vor dem Festland offenbarte, rannten viele Menschen hinunter, um dieses Schauspiel der Natur zu bewundern. Als Minuten später die Welle eintraf, konnten sie nicht mehr schnell genug auf die höheren Bereiche der Insel zurücklaufen und so ertranken viele von ihnen in den Fluten. Ich war damals nicht im Dorf, ich hatte einfach nur Glück. Viele aus meiner Familie starben. Heute stürmen wir bei jeder kleinsten Erschütterung sofort aus den Häusern die Fluchtwege den Berg hinauf, ohne auf eine Tsunamiwarnung oder offizielle Informationen zu warten. Zu groß ist unsere Angst, dass es noch einmal passieren könnte“.
Ich übernachte noch einmal in Faofao und will um am nächsten Morgen um 8.30 Uhr mit dem Bus zurück nach Apia fahren. Ich frühstücke im Gästehaus Papaya und Ananas mit Reis und trinke dazu eine Tasse Kaffee. Meinen Rucksack stelle ich schon mal an den Rand der Straße. Der Kaffee treibt. Ich gehe noch auf die Toilette. Plötzlich höre ich ein Motorengeräusch und Stimmen, die meinen Namen rufen. Der Bus ist zehn Minuten zu früh. Geschäft beendet und zurück auf die Straße gelaufen. Ein Mann hat für mich den Bus angehalten und grinst als er mich von der Toilette kommend sieht. Mein Rucksack wird gerade schon durch das Fenster gehievt und nach ganz hinten durchgereicht. Die letzte Bank ist diesmal nur für Gepäckstücke reserviert. Der Bus ist bis auf den letzten Sitzplatz belegt, zwei junge Männer stehen im schmalen Gang. Als ich einsteige steht ein junges Mädchen auf und bietet mir ihren Sitzplatz an. Ich denke mir nur wie alt oder fertig ich wohl auf sie wirken muss, wenn sie mir ein Platz anbietet. Oder ist es einfach nur Freundlichkeit gegenüber Ausländern? Eigentlich fühle ich mich gut.! Kurzum. Ich führe es auf meine schlechte Nacht zurück. Ich nehme den Sitzplatz dankend an, schließlich dauert die Fahrt in die Hauptstadt über zwei Stunden. Das Mädchen setzt sich auf den Schoß einer Freundin weiter hinten. Einige hundert Meter weiter hält der Bus wieder an. Eine Gruppe von fünf Personen steigt zu. Die beiden älteren Herrschaften bekommen sogleich von zwei anderen Mädchen einen Sitzplatz angeboten. Die beiden Kinder werden kurzerhand bei zwei erwachsenen Frauen auf den Schoß gesetzt. Die beiden Mädchen finden noch auf den Bänken zwischen Freundinnen Platz, der Halbwüchsige gesellt sich den anderen beiden jungen Männern in der Mitte des Buses hinzu. Hundert Meter weiter halten wir schon wieder, zwei beleibtere Damen steigen zu. Ihre ebenfalls prall gefüllten Reisetaschen werden nach hinten durchgereicht. Man kann sie hier unmöglich stehen lassen, denke ich mir. Da kommt ja kein Mensch mehr durch. Schnell haben zwei Jugendliche, die nebeneinander sitzen die Lage erkannt und stellen ihren Sitzplatz zur Verfügung. Die Damen atmen erleichtert auf, als sie sich setzen dürfen. Einer der beiden Jungs quetscht sich zwischen zwei Freunde, der andere setzt sich auf den Platz eines Kindes und nimmt jenes auf seinen Schoß. Schon röhrt wieder der Motor und es geht weiter die Hauptstraße den Berg hinauf Richtung Wasserfall. Doch schon kurz nach dem Ortsschild halten wir wieder an. Eine Gruppe Jugendlicher wartet am Straßenrand. Zwei Mädchen setzen sich auf die Bank mit den zusammengequetschten dreien, ein junger Mann setzt sich auf das ausgefahrene Knie eines Bekannten, der andere nimmt einen Jungen und ein Kleinkind auf den Schoß und findet somit auch noch einen Sitzplatz. Ein weiteres Mädchen setzt sich zu einer Frau mit ihren zwei Kindern auf die Bank. Zwei Halbwüchsige gehen nach hinten durch und setzen sich vor der Gepäckbank auf den Boden. Plötzlich tauchen an der Tür noch einmal zwei sechs- bis achtjährige Mädchen in ihren blauweißen Schuluniformen auf. Die eine findet ein freies Eckchen auf der Bank einer älteren Dame und die andere einen Platz auf dem Schoß einer jungen Mutter, die ihr Kleinkind kurzerhand noch obendrauf setzt. Nicht nur die beiden beleibteren Damen atmen etwas schwerer. Es wird stickiger und jeden drückt irgendwo ein Ellenbogen, ein Hintern, eine Schulter oder ein vor Müdigkeit zur Seite gefallener Kopf, sodass nicht nur klaustrophobisch veranlagten Menschen ein wenig unwohl wird im vollbesetzten Bus. Glücklicherweise hält der Wagen nur noch ein einziges Mal an, um zwei ältere Herren einsteigen zulassen. Dazu steht ein Mann mittleren Alters auf und stellt sich in den Gang, der zwischenzeitlich schon von hinten bis fast ganz nach vorne aufgefüllt worden ist. Als ich aufstehen will, um meinen Platz dem zweiten Mann anzubieten spüre ich eine Hand auf meiner Schulter. Eine Mutter setzt das Mädchen von ihrem Schoß auf die Beine eines Mannes neben ihr und findet selbst noch einen Platz auf der Bank eines jüngeren Paares, wo es sich auf die Beine der jungen Frau setzt. Tatsächlich war es unser letzter Stopp auf dem Weg nach Apia, das wir zwei Stunden später erreichen. Wenige von uns einigermaßen entspannt, viele, so vermute ich, müssen jetzt ihre Muskeln und Knochen erst einmal dorthin sortieren wo sie hingehören und werden wohl noch etwas brauchen bis sie wieder normal gehen können.
Ich mache mich auf den Weg in das Kirchencafé, um dort ein letztes Mal zu frühstücken. Bei der Morgenlektüre erfahre ich unter anderem auch, dass Herr Trump der nächste Präsident der USA sein wird. Danach besuche ich noch den ehemaligen Landsitz von Robert Louis Balfour Stevenson, der hier in Vailima nahe Apia 1894 verstorben ist. Stevenson litt an Tuberkulose und wurde nur 44 Jahre alt. Ich muss zugeben, dass ich, bevor mir Jörg auf meiner Abschiedsfeier sein „In der Südsee“ als Reiselektüre mitgegeben hatte, bewusst noch nicht sehr viel von ihm gehört, gelesen oder gesehen hatte. Ich stellte aber bald fest, dass er ein recht umfangreiches Werk von Reiseerzählungen, Abenteuerliteratur und historischen Romanen wie zum Beispiel „Die Schatzinsel“ und „Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr Hyde“ hinterlassen hat. Stevenson hatte aufgrund seiner Krankheit in Europa nur noch eine sehr geringe Lebenserwartung und entschloss sich daher 1889 in die Südsee zu emigrieren und verlebte dort mit seiner Frau noch einige schöne und ereignisreiche Jahre bis zu seinem Tod. Die Villa, in der er wohnte, ist zweistöckig und für dortige Verhältnisse riesig und der dazugehörige Park großzügig angelegt, sodass beides auch sehr gut in England um 1900 vorstellbar gewesen wäre. Danach laufe ich noch zu seinem Grab auf dem nahen Hausberg. Bei meinem Aufstieg treffe ich immer wieder auf hiesige Freizeitsportler, die den Weg als Joggingstrecke nutzen. Von einem von ihnen bekomme ich einen Lift zurück ins Stadtzentrum, wo ich noch zu Abend esse und dann mit dem letzten Bus zum Flughafen fahre wo mein Flug um 22.30 Uhr gen Auckland startet.