Am Abend fahre ich mit dem Bus noch einmal in die Innenstadt. Überall wo ich entlang laufe werde ich an das Erdbeben von 2011 erinnert. Ich treffe auf viele zerstörte Gebäude und leere Flächen, aber daneben auch auf neue Häuser und neue Straßen. An einigen stehengebliebenen und apokalyptisch wirkenden Mauern kleben oder hängen Plakate mit der Aufschrift „rebuilt our City“ und „Re:Start“, andere sind mit Graffiti verziert.

Am nächsten Morgen fahre ich mit dem „French Connection – Bus“ nach Akaroa, einer von französischen Walfängern und Siedlern um 1840 gegründeten Siedlung auf der Banks Peninsula. Sie liegt nur 80 Kilometer von Christchurch entfernt, die Fahrt dorthin dauert aber trotzdem an die drei Stunden. Die Busfahrerin ist vielmehr eine Reiseführerin, die auf der Fahrt Anekdoten zu Christchurch und Akaroa und Ausflugstipps zum Besten gibt und die Geschichte der beiden Ortschaften im Schnelldurchgang zusammenfasst. An der Little River Railway Station machen wir in der Gaststätte des ehemaligen Bahnhofs kurz einen Kaffeestopp.

Akaroa liegt in einem Vulkankrater, der vor ca. sechs Millionen Jahren entstand und im Laufe der Jahrtausende wieder vom Meer geflutet wurde. Heute leben im Kernbereich der Siedlung an die 600 Menschen, zwei davon sprechen noch Französisch und in der Schule wird Französisch auch als Wahlfach unterrichtet. Das französische Erbe wird an allen Ecken und Enden – wenn auch fast ausschließlich zu touristischen Zwecken – in Erinnerung gebracht. Nichtsdestotrotz sind viele Gebäude aus dem 19. Jahrhundert als Denkmäler gelistet und durchaus schön anzuschauen. Viele der Straßennamen wurden in den 1960er Jahren wieder in Französische umbenannt. Es gibt im Ort außerdem eine französische Metzgerei, jeden Samstag einen Markt, auf dem Landwirte und Künstler französisch anmutende Produkte (Z.B. Käse, Baguette, Zwiebelkuchen, Würste, Marmeladen, Schmuck, Andenken und die dort kultivierten Blauen Perlen) verkaufen. In den Cafés gibt es französisches Gebäck und ausgezeichneten Kaffee. Auch das Lebensgefühl erinnert ein wenig an unsere westlichen Nachbarn: Alles läuft eine Stufe langsamer und gemütlicher, das Auge isst wieder mit, die Gärten und Häuser erscheinen bunt und nett dekoriert. Längst hat der Tourismus Fischerei und Landwirtschaft als wichtigste Einnahmequellen abgelöst. Vom Pier aus starten Bootstouren zu Pinguin- und Seelöwennistplätzen, zum Whalewatching und zum Schwimmen mit Delphinen. Außerdem kann man in der Bucht die kleinen Hektordelfine beobachten oder mit dem Kajak die Küste erkunden. Ich will hier drei Tage in einem Hostel bleiben, um mich ein wenig von der Campertour zu erholen.

Bei meinem abendlichen Rundgang entdecke ich mein späteres Lieblingslokal: Murphy`s Seafood. Bis vor ein paar Monaten verkauften man nur direkt aus einem Wohnwagen am Pier, mittlerweile haben die Besitzer auch ein kleines Take-away-Restaurant mit einigen Sitzgelegenheiten im Zentrum eröffnet. Dort gibt es ausgezeichnete Fishburger und Fish and Chips. Wie schon in Samoa und Fiji wird der dazu verwendete Tunfisch gegrillt und nicht frittiert und die Bötchen sind selbst hergestellt. Am zweiten Tag mache ich eine Wanderung hinauf auf eine der vielen Erhebungen, die es in dem Krater noch gibt. Der Weg ist geteert aber sehr steil. Ich gehe vorbei an Wiesen auf denen Schafe und Kühe weiden und erreiche schließlich einen Aussichtspunkt, von dem ich einen fantastischen Blick auf die Buchten des Kraters, die Ortschaft, den Hafen mit dem Leuchtturm und die hinter der Stadt liegenden kleineren Hügel, Wiesen und Wälder habe. Ich genieße die Tage in den Cafés und Restaurants, esse leckere Kuchen, trinke richtig Kaffee und heiße Schokolade und esse wieder bewusster und genussvoller. Das Leben und Essen auf den Campingplätzen war zeitweise ja ganz nett, aber nach den zwei Wochen muss ich sagen, das ist – zumindest auf längere Zeit – weder kulinarisch noch reisetechnisch mein Ding. Am Abend gehe ich in das örtliche Kino und schaue mir den neuen Rowling Film „Fantastic Beasts and Where to Find Them“ an. Mein Zimmer im „Chez la Mer“ ist sehr nett, das Bett richtig bequem und die Gespräche mit den Gästen und der Betreiberin im Garten hinter dem Haus oder in der Lounge sind eine tolle Abwechslung nach den hastigen und teilweise recht einsamen letzten zwei Wochen in meinem Van. Am Rückweg nutze ich wieder den Bus von French Connection. Diesmal halten wir zu einer Käseverkostung in einer der letzten Käsereien, die es noch aus französischen Zeiten gibt, in einem Dorf auf dem Weg nach Christchurch.

Die nächsten zwei Tage verbringe ich dort in einer Unterkunft am Rand der Innenstadt. Die Eigentümer haben das Haus erst kürzlich erworben und betreiben darin als Zwischennutzung ein Airbnb – Hostel. Am Abend streife ich noch einmal durch die Stadt und treffe durch Zufall auf den von meinem Host in Akaroa sehr empfohlenen Smash Palace, wo ich einen leckeren Hamburger nebst Craftbeer zu mir nehme.

Einen meiner Stadtrundgänge unternehme ich mit dem besonderen Blick auf die Auswirkungen des großen Erdbebens. Das Beben zerstörte im Februar 2011 fast die gesamte Innenstadt. Es hatte „zwar nur eine Stärke von 6,3“, aber der Erdbebenherd lag sehr nahe an der City und das Erdbeben fand in geringer Tiefe statt. Das Zentrum der Stadt wurde nach der Zerstörung als „Red Zone“ komplett abgeriegelt. Heute ist sie bis auf den Bereich um die Ruine der Kathedrale wieder offen. Ungefähr 9000 Gebäude wurden zerstört, etwa 100.000 waren reparaturbedürftig und einsturzgefährdet. Viele davon wurden in der Zwischenzeit schon abgerissen. Der Abschluss der Arbeiten wird in 2040 erwartet.

Von meinem Quartier aus laufe ich Richtung Süden und treffe schon nach mehreren hundert Metern auf eine Stahlskulptur. Die verwendeten Stahlteile stammen vom eingestürzten World Trade Center. Die Skulptur ist den Feuerwehrmännern gewidmet, die täglich und besonders in Katastrophenfällen ihr Leben für die Rettung anderer riskieren. Hier wird insbesondere derer gedacht, die dabei ihr Leben verloren haben. Einen Kilometer weiter erreiche ich die Transitional Church, die erbaut wurde nachdem die alte Kathedrale aufgrund des Erdbebens nicht mehr genutzt werden konnte. Der japanische Architekt Shigeru Ban hat das neue Kirchengebäude als Papprohrkonstruktion verwirklicht. Die Lebenserwartung des Gebäudes wird mit 50 Jahren angegeben. Sie ist einerseits Erinnerungsstätte, aber mit ihren knapp 700 Sitzplätzen auch ein aktives Gotteshaus, was die über 750 jährlichen Gottesdienste seit dem Erdbeben belegen. Gleich dahinter, auf der anderen Straßenseite, befindet sich das Kunstprojekt der „freien Stühle“. Für jeden der 185 Personen, die bei dem Erdbeben ums Leben kamen, wurde auf dem rechteckigen Platz ein weißer Stuhl aufgestellt, der daran erinnern soll, dass in den betroffenen Familien für alle Zukunft ein Stuhl freibleiben wird: Eine Babyschale für getötete Babys, Kinderstühle für jedes getötete Kind, ein Rollstuhl für einen Behinderten …….

Ich treffe auf viele offene Flächen, die durch den Abriss aberhunderter Gebäude entstanden sind. Einige werden als Parkplätze genutzt, andere sind einfach nur riesige Brachen. Mauern und Wände, die ehemals an andere Gebäude anschlossen und das Erdbeben überlebten sind mit Karikaturen, Comics oder einfach nur mit Nachrichten bemalt bzw. beschrieben. Mal überdimensioniert groß, mal viele kleine Objekte nebeneinander, mal farbig leuchtend, mal triste und grau. Überall in der Stadt stehen noch Gebäude, die zwar baufällig aber noch nicht abgerissen worden sind. Sie werden teilweise von übereinander gestellten Schiffscontainern oder anderen Haltekonstruktionen gestützt. Neben zwei seit dem Erdbeben leerstehenden und mit Rissen und Löchern übersäten Hochhäusern steht am Cathedral Square die stark zerstörte neugotische Kirche. Der Kirchturm des in den 1870er Jahren fertiggestellten Gebäudes stürzte durch die starken Erschütterungen zur Hälfte ein. Die herabfallenden Teile beschädigten auch die restliche Kirche, die heute zu großen Teilen einsturzgefährdet ist und als Ruine, in Erwartung ihres baldigen Abrisses, ein trauriges Dasein fristet. Ein zwei Meter hoher Bauzaun lässt nur vereinzelt vollständige Blicke auf das Gebäude und Gelände zu. Um den Platz herum treffe ich auf weitere Zwischennutzungsprojekte, wie zum Beispiel die Star-Einkaufscontainer-Stadt, aber auch auf eine Vielzahl von neuen, vor allem öffentlichen, Versicherungs- und Bankgebäuden.

Ein besonderes Projekt ist die 2011 eingeweihte Re.Start Mall. Sie wurde dort, wo früher die Fußgängerzone der Stadt war, aus farbigen, teilweise auf- und nebeneinandergestellten Schiffscontainern errichtet. Daneben wird aus umgebauten Wohnwägen oder Essbuden für das leibliche Wohl der Konsumenten gesorgt. Sie ist für mich ein Spiegelbild der Kreativität und der Lebensfreude der Bürger, die man trotz der überall sichtbaren Folgen der Katastrophe, sehen und spüren kann. Gegenüber den Einkaufscontainern eröffnete 2013 auch das Museum Quake City seine Türen. Mit Schaubildern, Modellen, Fotos, Videos und Ausstellungsobjekten wird das Thema Erdbeben von allen Seiten beleuchtet und dadurch auch ein wenig entdämonisiert. Private Neubauten findet man in der Innenstadt hingegen nur sehr selten, was nach Aussage von Betroffenen damit zu tun hat, dass private Kredite bzw. Versicherungssummen nur tröpfchenweise und bei unverhältnismäßig hohen organisatorischen Aufwand, in der Regel auch nur mit erheblicher zeitlicher Verzögerung genehmigt und ausbezahlt werden.

Am Abend besuche ich noch den botanischen Garten, wo die ersten Weihnachtsgefühle erwachen.