Mit einer Verspätung von einer Stunde geht es mit einem etwas in die Jahre gekommenen Jumbo-Jet los. Etwas ungewohnt ist, dass das Bordpersonal nur aus Männern besteht, mit Ausnahme der Führungskraft, die ist nämlich eine Frau. Der Flug dauert zwölfeinhalb Stunden. Mit zehn Stunden Zeitverschiebung und bei 38 Grad erreiche ich den Flughafen von Santiago. Ich steige gleich in den „Centropuerto-Bus“, der mich für 2.000 CLP in die Stadt bringt, genauer gesagt an die U-Bahnstation Los Heroes. Von meinen neuen Airbnb-Hosts habe ich alle notwendigen Informationen zu den Verkehrsmitteln und deren Preisen bekommen. Das Taxi von hier zu ihrem Haus soll ebenfalls 2.000 CLP kosten. Ein Taxifahrer spricht mich an, an und für sich ja schon mal ein schlechtes Zeichen. Als aber meine Frage nach einem Taximeter bejaht wird, steige ich entspannt in das Fahrzeug ein. Startgebühr mit 380 CLP passt auch. Dann geht es los, die Gebühren erhöhen sich zunächst moderat, aber plötzlich macht der Taximeter pro 100 gefahrene Meter Sprünge um Fünfhundert Pesos und bald darauf erfolgt die große Verwunderung. Die Uhr zeigt 12.000 CLP an, was so 18 Euro entspricht, für zehn Minuten umherfahren ein stolzer Preis. Aber ich bin erstens müde, zweitens hungrig und drittens denke ich mir ob dieses Zustands, dass das hier halt so ist und die Hosts sich vielleicht verschrieben haben. Ich zahle also brav den angezeigten Preis und freue mich auf mein Bett. Als ich Abends die Geschichte erzähle, werden die Hosts, zwei jüngere Frauen, richtig sauer. Und zwar deshalb, weil sie mich nicht vor der Tür erwartet haben, um den betrügerischer Taxifahrer zu entlarven und eben nur den üblichen Tarif zu bezahlen. Sie erzählen mir, dass viele Fahrer im Fußbereich einen Knopf betätigen können, der die Taxi-Uhr schneller laufen lasse. Wieder was dazu gelernt. Beim Nachzählen meines Geldes stelle ich zudem fest, dass mich auch der Busfahrer beim Wechselgeld rausgeben beschissen hat. Das nenn ich mal einen eindrucksvollen Einstieg in die südamerikanische Kultur!
Am nächsten Tag nehme ich an einer der sogenannten Free Tours teil, die von Studenten durchgeführt werden. In einer fast vierstündigen Führung werden die wichtigsten, aber auch andere, Sehenswürdigkeiten erlaufen und interessante Geschichten dazu und ebenso zur Historie und Kultur Chiles erzählt. Neben den typischen Touristenstopps wie Oper, Museen, Präsidentenpalast etc. besuchen wir eines der Wohnhäuser Nerudas, durchstreifen das Studentenviertel Bella Vista und queren einige kleineren Parks. Darüber hinaus gibt es Tipps zur chilenischen Küche, eine kurze Cocktailstunde und Anekdoten zu den uns immer wieder begleitenden freien wilden Hunden, die es in Santiago außer im Innenstadtbereich vor allem in den Vororten gibt. Der Führer erzählt, dass alles damit anfing, als Familien für ihre kleinen Kinder Hunde zum Spielen besorgten. Als die Tiere schneller wuchsen als ihre Kinder und ihnen sinnbildlich die Haare von den Köpfen fraßen, setzte man sie irgendwann aus. Fürsorgliche Nachbarn kümmerten sich um sie und stellten Wasser vor das Haus und gaben ihnen ihre Essensreste und so kam es, dass sich diese ausgesetzten Hunde explosionsartig vermehrten und heute im Stadtbild nahezu jeder südamerikanischen Stadt zu finden sind. Deshalb findet man sehr oft fest verschließbare Mülleimer oder Gitterboxen, die auf einem Pfahl befestigt werden, damit sie nicht von den Hunden oder auch von Ratten geplündert werden können. Am Ende erwähnt der Guide ganz nebenbei, dass er eine Spende von 10.000 CLP für angebracht hielte, denn schließlich kostet eine gebuchte Tour an die 40.000 CLP. Alles ein wenig anders hier. Aber die Tour war richtig gut und so entrichte auch ich meinen kleinen Obolus. Nach der Führung gehe ich in eines der empfohlenen kleineren Restaurants, esse eine Pizza und trinke meinen ersten Pisco Sour. Am Rückweg fallen mir das erst Mal die unzähligen Graffitis entlang der Häuserwände, an Brückensäulen und Bushaltestellen auf.
Am nächsten Tag mache ich mich noch einmal auf den Weg in die Innenstadt. Ich laufe zur U-Bahnstation Los Heroes und kaufe mir für 450 CLP ein Ticket. Der Preis ist unabhängig davon wie viele Stationen ich fahre oder wie lange ich unterwegs bin. Ich könnte damit, solange ich die U-Bahn Kontrolldrehkreuze nicht durchschreite, den ganzen Tag in einem der fahrenden Züge oder an den U-Bahnhöfen verbringen. Auch ein nettes Konzept. Die Straßen der Stadt sind voll, laut und alles bewegt sich sehr schnell. Die Altstadt ist zum Teil aber eine Fußgängerzone. Doch auch hier wuseln die flinken Südamerikaner und – amerikanerinnen an mir vorbei, dass mir fast schwindlig wird. Zum Glück gibt es hier und da einen kleinen mit Denkmälern und Bäumen gespickten Platz oder Park, an dem ich mich der hohen Geschwindigkeit des hiesigen Seins ein wenig entziehen kann. Die Wucht, mit der hier die Gegensätze arm und reich, neu und alt, schön und hässlich, gutriechend und stinkend, auf kleinsten Raum aufeinandertreffen, ist enorm und ich merke, dass ich noch nicht wirklich ein großer Fan dieser Kultur bin . Abends esse ich in der José Victorino Lastarria, in der Nähe der U-Bahnstation Katholische Universität in einer der vielen kleinen Gaststätten entlang der Straße. Ein chilenisches Touristenpärchen hilft mir beim Entziffern der Speisekarte und beim Bestellen. Mein erstes südamerikanisches Rindersteak. Die Beilagen sind tatsächlich nur Beiwerk und nicht wirklich der Rede wert, aber dafür ist das Stück Fleisch eher was für zwei. Sehr lecker. Mit dem empfohlenen Austral Patagonia Bier ist das aber wenigstens ein gelungener Einstieg in die kulinarische Welt Südamerikas. Die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen in Santiago ist allerorten zu spüren. So langsam beginne ich mich doch auch kulturell zu akklimatisieren.
Mit einem LATAM-Flug nach Punta Arenas beginnt am 25. Januar meine Patagonienreise. Diesmal besteht das Bordpersonal ausschließlich aus Männern. Sie stehen den Stewardessen in punkto Lächeln, Freundlichkeit und Service in nichts nach. Vom Flughafen bringt mich ein Minibus für 5000 CLP zu meinem Airbnb-Quartier, das nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt ist. Die Menschen und das Stadtbild erinnern mich sehr stark an die Städte Ostrusslands zu Zeiten von Glasnost: Die Physiognomie scheint der Härte des – subpolaren – Klimas angepasst zu sein. Ich treffe kaum auf Menschen, die so groß sind wie ich, geschweige denn größer; der Körperbau ist insgesamt etwas kräftiger als in der Hauptstadt. Man kleidet sich eher zweckmäßig und funktional. Die Gebäude und Straßen sind vor allem aus Beton gebaut und mitunter sehr stark von den Temperaturschwankungen und insbesondere von Frostschäden gezeichnet. Die Menschen sind ausgesprochen freundlich, hilfsbereit und trotz meiner mangelnden Sprachkenntnisse sehr geduldig und interessiert. Am Abend gehe ich zum Market Municipal am Hafen, den mir mein Host zum Essen empfohlen hat. Im Erdgeschoss wird im vorderen Bereich Fisch und allerlei Meeresgetier, das von den hier gefangen wird, verkauft. In den hinteren Räumen wird Kunsthandwerk angeboten, vor allem Wollwaren und Holzschnitzereien. Die neben ihren kleinen Läden strickenden – meist älteren – Damen, verkaufen Handschuhe, Ponchos, Pullover, Strümpfe oder Mützen. Weiter hinten gibt es dann auch Ramschzeugs für den gemeinen Touristen. Im ersten Stock befinden sich an der Fensterfront fünf kleine Restaurants, die vor allem leckeren Fisch und Meeresfrüchte anbieten. Weiter hinten befinden sich wieder etliche touristische Läden. Der zweite Stock ist komplett einem Restaurant vorbehalten. Von den Tischen an der großen Fensterfront hat man einen tollen Blick auf die See und die Hafenanlagen. Ich esse in einem der kleinen Restaurants im ersten Stock. Ich bestelle ein Lachssteak mit gemischten Salat und Pommes. Zuerst wir eine Art Gedeck auf den Tisch gestellt, das aber nicht bezahlt werden muss: Ein Korb mit Weißbrot und eine kleine Schale mit einer Art Soße, die als Pebre bezeichnet wird. Sie besteht aus kleinstgewürfelten Zwiebeln, die vorher drei Minuten im heißen Wasser gebadet werden und Tomaten unter Zugabe von Pfeffer, Chili und klein geschnittenen Koriander, dazu ein wenig Zitrone und Öl zum Abschmecken. Zum Fisch trinke ich ein Glas vom Hauswein und den Abschluss macht wieder der Pisco Sour.
Am nächsten Tag mache ich mich an die Planung meines achttägigen Treks im Torres del Paine Nationalpark. Der Park befindet sich drei Busstunden nördlich von Punta Arenas. Vor einem halben Jahr hat die Conaf das Zugangsverfahren komplett umgestellt. Pro Tag dürfen jetzt nur noch 80 Trekker den Circuit beginnen. Die Campingplätze, die entlang dieses Rundwanderweges liegen, werden von mehreren Unternehmen betrieben. Um aber ein Permit für den Circuit zu bekommen, muss man die Zeltplätze schon alle im Vorfeld gebucht haben, was bei dreien online und bei den anderen per Email oder Anruf erledigt werden kann. Nach stundenlangen hin und her und rumprobieren gelingt mir eine durchgehende Buchung erst für den 11.3. bis zum 18.3., also erst in sieben Wochen. Hochsaison in Patagonien ist wahrlich kein Zuckerschlecken! Am nächsten Tag will ich mein Schiffsticket für das Versorgungsschiff buchen, das zwei bis dreimal die Woche von Punta Arenas aus Puerto Williams auf der südlich von Feuerland gelegenen Insel Navarino ansteuert. Aber auch hier ist für die nächsten zwei Wochen schon alles ausgebucht. Erst für den siebten Februar kann ich ein Ticket für die entgegengesetzte Richtung reservieren. Die 150 Euro muss ich am Hafen dort bezahlen, eine Bestätigung für die Buchung bekomme ich nicht, aber mit einem „Sie können sich auf die Buchung verlassen“ versucht mich die Reedereiangestellte gleich zu beruhigen, als sie mein ungläubiges Gesicht sieht.
Danach laufe ich zum Büro von Bus Sur, um ein Ticket für den nächsten Tag nach Ushuaia, der größten Stadt auf Feuerland, zu kaufen. Wenigstens das klappt, es gibt immerhin noch eine Handvoll Sitzplätze. Am Abend gehe ich noch auf den Friedhof Punta Arenas, der mit seinen farbenfrohen Gräbern und Urnenwänden einen angenehmen Kontrast zum Farbeneinerlei in der Stadt darstellt. Meine ersten drei Tage in Punta Arenas hake ich vor allem unter den Gesichtspunkten Organisation und Kulinarisches ab. Für meine Rückkehr in zehn Tagen reserviere ich bei der netten Gastfamilie schon gleich mal wieder das gemütliche Zimmer in dem Haus mit den zwei Hunden und den fünf Bettdecken.