Um 10.00 Uhr fahre ich mit Bus Sur nach Puerto Natales. Ich habe dort drei Stunden Aufenthalt, dann geht es um 15.00 Uhr weiter über die Grenze nach Argentinien in den beschaulichen Ort El Calafate. Um 21.00 Uhr liege ich im Bett. Diese Busreisen sind auch nicht unanstrengend. Am Tag danach steht noch physische Restauration an: Ausschlafen, ausgiebig Kaffee trinken und Croissants essen. Danach mache ich mich zu Fuß auf den Weg zur Hauptverkehrsstraße. Der Taxifahrer, der mich gestern Abend in mein Airbnb Quartier gefahren hat, erzählte mir, dass der Ort 2006 noch 5.000 Einwohner hatte, jetzt hat er 25.000! Der Grund für diese rasante Bevölkerungsexplosion ist ausschließlich dem Tourismus zu „verdanken“. Sowohl der chilenische als auch der argentinische Teil Patagoniens, von Punta Arenas bis ins Seengebiet um San Carlos de Bariloche, hat in den letzten 20 Jahren einen noch nie da gewesenen Ansturm von Touristen erlebt. Mein Host in Punto Arenas brachte es auf den Punkt: Vor 10 Jahren flog ein Flieger alle sieben Tage von Santiago direkt nach Punto Arenas. Heute fliegen jeden Tag sieben!
Die Ortschaft liegt auf einer Moränenlandschaft mit teilweise tief eingeschnittenen Tälern. Der Ortskern erstreckt sich entlang der Hauptstraße am Gletschersee Lago Argentino. Geplante städtische Strukturen hören gefühlt einen Block südlich und nördlich der Hauptstraße aber schon wieder auf. Plötzlich gibt es keine geteerten Straßen und keine vernünftigen Gehsteige mehr, keine Bäume, kaum mehr Häuser mit Gartenanlagen oder ordentlichen Zufahrten. Nur eine geteerte Straße windet sich den Hügel hinauf, die Seitenstraßen sind Schotterpisten, wie sie in Syrien nicht schlimmer sein könnten. Die Landschaft ist bei einem Niederschlag von 250 mm pro Jahr bestenfalls als Steppengebiet zu bezeichnen. Die Häuser werden kreuz und quer in die Pampa gebaut, teilweise gemauert, meist jedoch Holzständerbauweise, oft sind die OSB-Platten nicht einmal mehr mit einem Außenputz, geschweige denn mit einer Dämmung versehen. Überall in den Straßen gibt es wieder wilde Hunde. Je weiter ich mich von der Hauptstraße entferne, desto mehr finde ich mich in einer typischen Drittweltumgebung wieder. Das spiegelt sich auch in denen am Straßenverkehr teilnehmenden Kraftfahrzeugen wieder. Da sind Autos auf den Straßen, die würden bei uns in Deutschland nicht mal mehr auf einem Schrottplatz stehen dürfen. Nach einer Stunde bergauf treffe ich dann tatsächlich auf einen Autoschrottplatz, gleich daneben eine Koppel mit Pferden. Als ich noch ein Stück auf der Schottenpiste entlang laufe kommt plötzlich ein Motorradfahrer im Dennis-Hopper-Outlook die Straße herunter gefahren. Er hält kurz an. Als ich seine Frage, ob es mir gut ginge, mit „Ja“ beantworte gibt er wieder Gas und verschwindet in einer Staubglocke am Horizont.

El Calafate für mich die erste Ortschaft in Patagonien, wo ich so etwas wie „Flair“ verspüre. Zumindest entlang der Hauptstraße. Die netten und gemütlichen Cafés laden zum Verweilen ein, die Restaurants haben auch kulinarisch einiges zu bieten, wenngleich ich mich am ersten Abend sofort auf ein Asado-all-you-can-eat-Buffet stürze. Entlang der Hauptstraße gibt es unzählige Reisebüros, Souvenirläden, Banken, Sportgeschäfte, Supermärkte, kleine Kunsthandwerksläden und ein Casino. In einem der Reisebüros buche ich noch meinen Ausflug zu der einzigen wirklichen Attraktivität El Calafates, dem Perito-Moreno-Gletscher. Um elf Uhr falle ich, nachdem ich noch eine halbe Flasche Wein geleert habe, erschöpft ins Bett.

Um zehn Uhr sind wir am Eingang des Nationalparks, wo ich noch den Eintritt für den Eintritt bezahlen muss. Alles zusammen kostet der Ausflug, der bis um 17.00 Uhr dauert soll, 780 Argentinische Pesos, was ungefähr 50 Euro entspricht. Von der Bushaltestelle im Park laufe ich über eine Stahl- und Holzkonstruktion zum Gletscher, der dort in den Lago de Argentino strömt. Das Wegenetz um die Gletscherzunge herum ist mit seinen verschiedenen Ebenen und Schwierigkeitsgraden ungefähr 10 Kilometer lang, wobei die kürzeste Entfernung vom Parkplatz zum Gletscher gerade einmal einen Kilometer hin und zurück beträgt. Der Blick auf den Gletscher ist atemberaubend. An den Seiten ist der Eispanzer 40m, in der Mitte ungefähr 70m hoch. Die größte Breite erreicht 5 Km, seine Länge ungefähr 30 km. Immer wieder kracht irgendwo im oder am vorderen Rand der Eismassen ein Stück ab und verursacht ein Grollen und Donnern. Auf meinem Rückweg nehme ich in circa ein km Entfernung noch eine kleine Welle mit 30cm Höhe wahr, die durch das Abbrechen eines eigentlich relativ kleinen Stückes Eis entstanden ist. Am westlichen und östlichen Abschnitt des Sees fahren Boote bis auf dreihundert Meter an das Eis heran. Als es den Steg noch nicht gab und die Besucher direkt bis an den Gletscher kletterten, starben zwischen 1965 und heute an die 40 Menschen durch herabstürzendes Eis. Der Perito-Moreno gehört wie der Pio-XI, der Viedma, der Upsala und der Grey-Gletscher zum Südpatagonischen Inlandseisschild, der nach der Antarktis größten zusammenhängenden Eisfläche auf der Südhalbkugel. Dieses Gletschergebiet hat eine Ausdehnung in Nord-Süd-Richtung von 350 km, die Breite liegt meist zwischen 30 und 40 km. Die zusammenhängende Eisfläche beträgt ungefähr 13.000 qkm. Im Vergleich dazu wirkt die Gesamtfläche aller Alpengletscher mit ihren 3000 qkm eher mickrig.

In der darauffolgenden Nacht beginnt der große Regen, der sich bis zur Abfahrt meines Taqsa Buses um 10.00 Uhr hartnäckig hält. Auch als ich in El Chalten ankomme regnet es immer noch. Dabei bleibt es dann auch für die nächsten zwölf Stunden. Trotzdem mache ich einen dreistündigen Ausflug zu den beiden Aussichtspunkten Miradores Los Condores und Las Aguilas. Von beiden habe ich einen tollen Blick auf die Ebene südlich von El Chalten und auf die Ortschaft selbst.
Der Ort entstand erst 1985 aufgrund des aufstrebenden Tourismus in der Region. Dementsprechend befinden sich hier fast nur Gebäude, die direkt oder indirekt mit dem Tourismus zu tun haben. Unzählige Hotels, Pensionen, Hostels und einige Zeltplätze, dazu Reisebüros, Restaurants, Cafés, einige Fast Food Stalls, ein Fastfood Wohnwagen, Souvenirläden, das Busterminal und einige kommunale Gebäude. Auch wenn vieles ein wenig behelfsmäßig wirkt, so fühle ich mich in der kleinen Siedlung doch sehr wohl. Alles ist sehr überschaubar, auf den Straßen – und Pisten – gibt es kaum Autos, alles läuft noch eine Spur langsamer als in El Calafate.
Am zweiten Tag mache ich einen Ausflug zur Laguna Torre. Der Aufstieg zum Gipfel beginnt im Dorf und dauert ungefähr drei Stunden, eine weitere Stunde brauche ich für den hin und Rückweg zum Mirador Maestri entlang der Seitenmoräne des ehemaligen Gletschers. Von dort hat man einen tollen Blick auf die Granitnadel des Cerro Torre, das Eis des Glacier Grande ist zum Greifen nah. Hier oben ist es empfindlich kälter als unten im Tal, der Wind pfeift mir nur so um die Ohren. Der Rückweg hinunter zieht sich entlang des Rio Fitz Roy zurück in die Ortschaft. Insgesamt bin ich sieben Stunden unterwegs für knapp 22 Kilometer bei ca. 450 Höhenmetern.

Am nächsten Tag fahre ich mit dem Sammeltaxi zum Hostel El Pilar, wo der Wanderweg zur Laguna de los Tres beginnt. Vom Parkplatz bekomme ich das erste und einzige Mal den Fitz Roy ohne Wolken zu Gesicht, wenngleich der untere Teil von einem vorgelagerten Berg verdeckt wird. Der Wanderweg geht entlang des Rio Blancos zum Piedras Blancas Gletscher mit seinem Gletschersee. Nach sieben Kilometern erreiche ich den Zeltplatz am Rio Blanca. Dort beginnt der 400 Höhenmeteranstieg bei einer Lauflänge von einem Kilometer hinauf zum Gletschersee. Der Weg ist teilweise rutschig und geht über weite Strecken über Geröll. Als ich oben ankomme brauche ich erstmal eine Pause. Ich suche mir ein geschütztes Plätzchen, was nicht ganz einfach ist, denn auch hier oben pfeift der Wind wie Teufel. Am linken Seeufer laufe ich weiter bis zur Steilwand, wo es hinunter zur Laguna Sucia geht, dem größeren der beiden Seen, der etwa 100m tiefer liegt als die Laguna de los Tres. Danach steige ich noch auf den Hügel um einen Blick auf beide Seen und die beiden Gletscher zu haben. Einige Windböen sind aber so stark, sodass ich mich immer wieder hinsetzen muss, weil ich Angst habe vom Felsen hinunter in den See geweht zu werden. Aber der Blick auf die beiden Gletscher mit ihren Gletscherseen ist die Anstrengung allemal wert. Nach einer halben Stunde im eisigen Wind mache ich mich durchgefroren wieder auf den Rückweg. Die elf Kilometer bis hinunter ins Dorf führen vorbei am Lago Capri und noch einmal hinauf auf den Cerro Leon. Insgesamt bin ich für die ca. 22 km bei 750 Höhenmetern rund acht Stunden unterwegs. Um 18.30 Uhr komme ich ziemlich geschafft in meiner Pension an. Schnell geduscht, schleppe ich mich noch hinunter zum Asado-Restaurant meines Vertrauens und verschlinge in Sekundenschnelle ein Rindersteak mit Pommes und dazu ein Beagle Beer aus Feuerland. Um neun Uhr liege ich wie erschlagen im Bett und schlafe schnell ein.
Am nächsten Tag steht wieder einmal Regeneration an: Ausgiebig frühstücken, Mittagessen, nachmittags Kaffee trinken und abends nochmal ein Steak essen. Irgendwie habe ich diese Wanderungen früher besser weggesteckt. Danach laufe ich zum Busbahnhof, um mit dem Taqsa Bus die 1000 km (2050 Pesos, inkl. Frühstück und Abendessen) auf einem Teil der berühmt berüchtigten Ruta 40. Sie wird auch das „Rückgrat Argentiniens“ genannt, eine das Land von Norden nach Süden auf 5000 Kilometer durchziehende Endlosstraße bzw. –piste für erprobte Langzeitfahrer. Mein Ziel ist allerdings das 1000 Km weiter im Norden liegende San Carlos de Bariloche.
Eine Stunde nach Abfahrt gibt es bereits das Abendessen. Gegen Mitternacht werde ich plötzlich wachgerüttelt. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, dass der Bus in einem ca. 50cm tiefen und einen Meter breiten Graben feststeckt. Es ist kalt, die Reifen drehen immer wieder durch, bis es schließlich weder nach hinten noch nach vorne weitergeht. Nach einer viertel Stunde gibt der Fahrer auf. Einige Passagiere steigen aus und schaffen Steine heran, um das Loch aufzufüllen. Hin- und herschwingend schafft es der Busfahrer schließlich das Fahrzeug wieder aus dem Loch zu fahren. Ein großer Dank an die etwa zwanzig hilfsbereiten Burschen und Mädels, die dies mit ihrer Tatkraft trotz der Eiseskälte und des unangenehmen Windes ermöglicht haben. Die restliche Nacht mache ich kein Auge mehr zu. Nach 26 Stunden Fahrzeit erreiche ich schließlich völlig erschöpft mein neues Quartier um 23.00 Uhr.

San Carlos de Bariloche liegt am Fuße der Anden und hat 134.000 Einwohner. Der Ort ist berühmt für sein Skigebiet am Cerro Catedral und seine, dem Alpenvorland sehr ähnliche Landschaft, die zum Klettern und Wandern einlädt. Die Stadt liegt in einem Tal am Ufer des Nahuel Huapi Sees, der zu den größten Seen des Landes gehört auf ca. 800m. Viele der Einwohner haben deutsche, österreichische oder schweizer Vorfahren. In einer Schule wird noch Deutsch gelehrt. Der Innenstadtbereich und die ländlichen Vororte gleichen dörflichen Strukturen in den Alpen oder im Alpenvorland: Alles ist sehr ansehnlich, sauber, strukturiert und gemütlich.
Am nächsten Tag mache in einen Ausflug auf den Cerro Campanario, dem Hausberg der Stadt. Die Talstation erreiche ich mit dem Bus Nr. 20. Von hier aus kann man entweder per Sessellift (ca. 10 Euro.) oder zu Fuß (ca. 30 Minuten) auf den Gipfel wandern. Von hier oben habe ich einen traumhaften Blick hinunter auf die Seen, die umliegenden Berge mit ihren Dörfern, Höfen, Weiden, Äckern und Wäldern. Am Abend sitze ich mit meinem Host, der bekennender Bocca Juniors Fan ist, bei einer Flasche argentinischen Wein zusammen. Er erzählt von den engen Verflechtungen der argentinischen Hooligans mit den politischen Parteien. Einige Politiker rekrutieren ihre privaten Sicherheits-dienste aus den Hooligangruppen. Der politische Einfluss auf die Behörden hat zur Folge, dass diese Gruppen in und um die Stadien praktisch schalten und walten können wie sie wollen. Schlägereien, Überfälle, Raub und schlimmeres sind nahezu an der Tagesordnung. Eine Strafverfolgung dieser Gruppen findet in Argentinien und insbesondere in Buenos Aires quasi nicht statt. Er berichtet mir auch von einem folgenschweren Flaschenmonopol in Argentinien. Nur ein Unternehmen in Buenos Aires stellt wohl die handelsüblichen Bierflaschen her. Zu vernünftigen Preisen werden aber nur die Brauereien im Großraum Buenos Aires beliefert, was zur Folge hat, dass auch von den vielen kleinen Brauereien in und um Bariloche ein vielfaches des Normalpreises bezahlt werden muss und so ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem hiesigen Markt erheblich eingeschränkt ist. Die Bierbraukunst in der Stadt ist von den deutschen Immigranten mitgebracht und über die Jahrhunderte gepflegt und verfeinert worden. Ein deutschstämmiger und Deutsch sprechender Ober aus dem Llao Llao Hotel erzählt mir, dass viele der deutschen Familien sich Bausätze zum Bierbrauen angeschafft haben um selbst Zuhause zu brauen. Die kleinen Brauereien verkaufen ihr Bier nur in einigen Restaurants oder in ihren eigenen Cervezerias und nur selten im freien Handel. Es kommt häufig vor, dass Endverbraucher mit gängigen zwei Liter Flaschen direkt zu den Brauereien gehen und ihre Flaschen befüllen lassen, was aber offiziell – aus hygienischen Gründen – verboten ist. Eine weitere Besonderheit der Stadt sind die vielen Schokoladenhersteller, die entlang der Haupteinkaufsstraße ihre äußerst leckere Schokoladen in unzähligen Varianten, Formen und Geschmacksrichtungen verkaufen: Das schweizer Erbe in der Region.
Am nächsten Tag mache ich noch einen Tagesausflug zum Refugio Frey, einer Berghütte, die auf 1700m malerisch an einem kleinen Gletschersee liegt. Der Aufstieg beginnt an der Cerro Catedral Skistation. Nach ca. zwei Stunden erreiche ich die Abzweigung hinauf in das Seitental Los Coihues. Nach weiteren zwei Stunden bin ich an der Berghütte, an der es auch einen Campingplatz gibt. Von dort kann man dann über einen weiteren Anstieg über einen Bergkamm wieder hinunter zur Skistation wandern. Ich gehe aber, mangels Karten und Ausschilderung, wieder den gleichen Weg zurück zur Skistation. Insgesamt bin ich sechs Stunden und 24 km bei 750 Höhenmetern unterwegs. Mein Bus fährt erst in einer Stunde zurück. In einem der Cafés gibt es Apfelstrudel und heiße Schokolade,quasi das Sahnehäubchen des Tages. Am Abend falle ich zufrieden in mein Bett.

Meine körperliche Fitness hat sich in den letzten Wochen durch die vielen Wanderungen erheblich verbessert. Die Muskelschmerzen werden erträglicher und die Ruhezeiten kürzer! 🙂