Am nächsten morgen laufe ich zum Bahnhof, um den ersten Bus um 8.00 Uhr nach Puerto Varas zu nehmen. Aber um 9.00 Uhr warte ich immer noch auf meinen Bus! Die zuständige Dame im Büro vertröstet uns auf 12.00 Uhr, ohne den Grund der Verspätung zu nennen. Aber auch um zwölf kommt kein Bus. Eine Frau mittleren Alters aus der Gruppe der Wartenden, ergreift sodann die Initiative und macht richtig Rabatz, unter anderem auch wegen der schlechten Informationspolitik. Man verspricht uns daraufhin einen Bus um 15.00 Uhr. Aber auch da kommt keiner. Der Dame wird es zu bunt. Kurzerhand blockiert sie – mit einigen anderen Mitfahrern und auch ich mache mit – die Abfahrt von anderen Bussen unserer Gesellschaft, um unseren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Außerdem ruft sie das regionale Fernsehen und die hiesige Zeitung an und erläutert diesen unsere Lage. Das alles schlägt ganz schöne Wellen am kleinen Busbahnhof von Bariloche, aber ein Bus steht trotzdem noch nicht vor der Tür. Am späten Nachmittag wird uns schließlich zugesichert, dass am nächsten Morgen um 6.00 Uhr ein Fahrzeug für uns bereit gestellt wird. Alle Auswärtigen werden in ein Hotel im Stadtzentrum untergebracht und mit einem dürftigen Abendessen abgespeist. Die in Bariloche wohnhaften müssen zu Hause übernachten. Am nächsten Morgen steht dann tatsächlich der Bus bereit und es geht sogar pünktlich los. Nach einer zehnstündigen Fahrt über die mit Wolken behangenen Anden erreichen wir unser Ziel am späten Nachmittag.
Puerto Varas ist eine Kleinstadt im chilenischen Teil des sogenannten patagonischen Seengebietes, mit etwa 33.000 Einwohnern. Die Stadt liegt am Südufer des Llanquihue-Sees, der mit seinen 860 qkm der zweitgrößte See Chiles ist. An dessen Nordseite liegen die beiden Vulkane Osorno (2.652m) und Calbuco (2.003m). Um 1846 besiedelten insbesondere Einwanderer aus Deutschland die Region. Die Stadt ist auch heute noch stark von dieser Einwanderungswelle geprägt. Auf meinem Spaziergang durch die Innenstadt treffe ich auf viele historische Gebäude aus dieser Gründungszeit. Über dem Ort thront die Pfarrkirche Sagrado Corazón de Jesús, die eigentlich auch gut irgendwo in Süddeutschland stehen könnte. In der Nähe der Kirche liegt das Colegio Aleman, die deutsche Schule in Puerto Varas. Dort wird neben der deutschen Sprache auch die Weitergabe deutscher Kulturgüter wie Musik und Theater gepflegt. Die Schule ist eine private Einrichtung mit ca. 800 Schüler/innen und 50 Lehrern. Sie umfasst von Kindergarten und Vorschule über Grundschule und Mittel- bis hin zur Oberstufe alle Jahrgangsstufen. Unterrichtet wird in Spanisch, jedoch bereits im Kindergarten wird Deutsch als Zweitsprache unterrichtet. Englisch kommt dann ab der fünften Klasse dazu.
Ich wohne am Rande der Innenstadt, in einem der typischen, mit Schindeln verkleideten, Holzhäuser. Bei meinem Ausflug an die Hafenpromenade kann ich am anderen Ende des Sees die beiden Vulkane Osorno und Calbuco sehen. Der Osorno ist ein klassischer Schichtvulkan und auch die touristische Attraktion der Stadt. Bei meinem Spaziergang am Nachmittag stoße ich auf weitere deutsche Straßen- und Gebäudeamen.
In der Stadt ticken die Uhren in vielerlei Hinsicht anders als in den meisten spanisch geprägten Städten Chiles: Der Straßenverkehr ist auffällig langsamer und vor allem ruhiger. Die Autos fahren aufmerksam an die Zebrastreifen heran und winken die Fußgänger freundlich auf die andere Straßenseite hinüber. Die sonst allerorten gerne benutzen Hupen haben hier Sendepause. Die Straßen sind überall geteert und in einen guten Zustand. Baustellen sind ausreichend als solche gekennzeichnet. Überall im Stadtzentrum gibt es Bürgersteige. Die Häuser sind meist in einem guten Zustand, auf den Fensterbänken stehen Blumentöpfe, viele der Gärten sind hübsch angelegt. Natürlich sind diese Eindrücke für mich nicht fremd, aber eben eher mit der Heimat verknüpft, als mit Südamerika oder Chile.
Wie schon in Bariloche trifft man auch hier immer wieder auf Namen und Geschichten, die stark mit dem deutschen Nationalsozialismus verbunden sind. Einiges davon dient bestimmt auch der Legendenbildung, aber anderes, wie zum Beispiel eine stark ansteigende Immigration aus Deutschland nach dem Ende des zweiten Weltkrieges ist auch statistisch belegt. Ich erinnere mich daran, bei der Einfahrt in die Stadt ein Hinweisschild mit dem Namen Braunau gesehen zu haben ……
Nach drei geruhsamen Tagen in Puerto Varas mache ich mich am nächsten Morgen auf den Weg nach Chiloé. Nach viereinhalb Stunden Busfahrt erreiche ich Castro, die Hauptstadt der Insel. Sie ist eine der ältesten Städte Chiles und wurde schon 1567 als strategischer Militärstandort gegründet. Im 17. Jahrhundert begann man von hier aus mit der Verbreitung des katholischen Glaubens auf der Insel. Jesuiten errichteten hunderte von Holzkirchen – etwa 150 sind davon heute noch erhalten, darunter auch die hölzerne Kathedrale in Castro. Die Unesco erklärte viele der Gotteshäuser zum Weltkulturerbe.
Trotz eines optisch sehr präsenten Katholizismus hat sich auf der Insel eine von den Ureinwohnern geprägte Mythologie erhalten, die von der Kirche bis heute nicht verdrängt werden konnte. Die bekannteste Sagengestalt ist das Caleuche, ein Geisterschiff, das als ein schönes, leuchtendes Segelboot passierende Schiffe anlockt und an der Küste zerschellen lässt. Gesteuert wird es von singenden und tanzenden Hexen und Zauberern, die über magische Kräfte verfügen und darauf aus sind, rechtschaffene Menschen ins Verderben zu stürzen.
Ich beziehe mein neues Airbnb-Quartier in der Altstadt. Es ist eine ehemalige Tierarztpraxis, die von einem jungen Pärchen zu einem Wohnhaus umgebaut wurde. Danach laufe ich in das Stadtzentrum. Auf dem Marktplatz werden neben touristischen Andenken, darunter wieder viel selbst gestricktes und selbst gebasteltes, Lebensmittel, unter anderem einheimischer Honig, Käse, Gemüse aller Art, geräucherte – Brat – Würste und Gekochtes angeboten. Einige Stände verkaufen chilenisches Fast Food, vor allem Empanadas (Mit Käse, Fleisch oder Gemüse gefüllte Teigtaschen) und Manzanas (Mit Apfel gefüllte Teigtaschen).
Am nächsten Morgen mache ich einen Ausflug zum Gamboa Palafitos District, der sich südlich des Hauptplatzes am Puente Gamboa befindet. Palafitos sind Holzhäuser auf Stelzen, ähnlich wie jene in Venedig. Die Häuser ziehen sich wie an einer Perlenschnur gezogen entlang des Ufers, in der Regel eine, manchmal auch zwei Reihen hintereinander. Einige Häuser in Gamboa sind Wohnhäuser, die meisten aber werden als Cafés, Restaurants oder Verkaufsräume für Kunsthandwerk genutzt und sind größtenteils aufwendig renoviert bzw. saniert worden. Einige wenige wurden auch komplett neu in die durch eingestürzte Häuser entstanden Lücken eingefügt. Einige Häuser sind aber auch zusammengeschustert und zusammengeflickt, einige notdürftig mit Brettern, andere etwas aufwendiger mit Holzschindeln verkleidet. Sie sind oft bunt in Pastellfarbtönen bemalt, in der Regel zweistöckig und haben zum Meer hin einen Balkon bzw. eine Terrasse.
In einem der Restaurants, im La Chevicheria, trinke ich einen Kaffee. Die Terrasse hinaus auf die Bucht ist in Form eines Schiffsbugs angelegt; Titanic lässt grüßen.
Am nächsten Tag fahre ich mit einem Nahverkehrsbus nach Achao, einer kleinere Siedlung auf der Insel Quinchao, die gegenüber der Ortschaft Dalcahue im Nordosten Castros liegt. Das Leben dort ist sehr viel ländlicher geprägt und langsamer als in der Hauptstadt. Die Gemeinde bemüht sich sehr um die Touristen aus Castro. Die Holzkirche im Ortskern wurde aufwendig renoviert, in einem Nebenraum hat man ein kleines Museum eingerichtet. Am Hafen gibt es wieder einen Market Municipal mit leckeren Lebensmitteln aus der Region: Käse, geräucherte „Bratwürste“, Muscheln, Fischen, Honig und allerlei Gemüse, die von den Bauern und Fischern aus dem Ort angeboten werden. An einen Stand verkauft ein älterer Herr Lachs-Ceviche. Ceviche ist ein Gericht, das aus eigentlich aus Peru stammt, aber mittlerweile in ganz Südamerika zu finden ist. Es besteht traditionell aus kleingeschnittenen, rohen Fisch verschiedener Sorten, der ungefähr 15 Minuten in Limettensaft mariniert wird. In Scheiben oder Würfel geschnittene rote Zwiebel werden dann mit Rocoto, einer Chilisorte, die im heutigen Peru bereits von den Inkas gezüchtet wurde, und dem Fisch vermengt. Gegessen wird das Ganze dann in der Regel ohne Beilage, ich genehmige mir allerdings ob meines Bärenhungers dazu eine Scheibe Brot vom Bäcker gegenüber.
Weiter hinten stehen einige Holzhütten, bzw. eine Halle und Stände wo wieder verschiedenstes Kunsthandwerk angeboten wird. Auf dem Vorplatz werden von mobilen Händlern ebenfalls Lebensbändchen, Schmuck, Gemälde, Schnitzereien, Haushaltsprodukte und vor allem selbst gestrickte Pullover, Mützen und Handschuhe verkauft. Auch hier treffe ich wieder die „wandernden Künstler und Kunsthandwerker“. Ein junger Mann mit Dreadlocks verkauft auf einer kleinen Decke drapiert seine selbst hergestellten Halsketten und Armreife. Ein Musikerpärchen zieht musizierend und singend durch die Markthalle. Eine Frau hinter ihrem Verkaufstresen klatscht die Melodie mit, zwei Kinder tanzen dazu Händchen haltend. Der eine oder andere wirft anschließend ein paar chilenische Pesos in den herumgereichten Hut, dann ziehen die beiden wieder weiter.
Danach geht es mit dem Bus auf die Fähre und dann weiter nach Achao. Die Stadt hat ebenfalls eine recht hübsche kleine Kirche und ein ehemaliges Gotteshaus, das mittlerweile von Privatleuten bewohnt wird. Auch das gibt es im stark katholisch geprägten Chile. Den Strand entlang schlängelt sich eine „Hafenpromenade“, die nicht nur hier eilig, und weniger nach ästhetischen Gesichtspunkten, errichtet wurde, um den Touristen irgendeine „Attraktion“ bieten zu können. Einige Palafitos am Hafen, eine Hand voll Restaurants bzw. Gasstätten und Fast Food Buden lassen den Ort etwas aufgeweckter erscheinen als er eigentlich ist. Achao wirkt auf mich eher wie die Westernstadt aus High Noon. Alles läuft in Megazeitlupe ab und es ist schon etwas Besonderes, wenn der klassische Haushund einen frei herumstreunenden Köter angebellt, weil dieser in seinem Revier wildert.
Nach einer Stunde mache ich mich wieder auf den Rückweg nach Dalcahue. Um den Markt gibt es einige, direkt am Wasser gelegene, Palafito-Restaurants. Ich esse in der Conceria Carmen, wo es unschlagbar günstiges, aber vor allem sehr gutes, mit frischen Produkten aus der Region zubereitetes einheimisches Essen gibt.
Der nächste Tag steht ebenfalls unter einem kulinarischen Ausrufezeichen. Castro ist ein Schmelztiegel südamerikanischer Küche und hat auch einiges an einheimischen Leckerbissen zu bieten. Ich starte meinen kulinarischen Spaziergang mit dem klassischen Ensalada a la Chilena, einem einfachen aber nicht minder leckeren Tomatensalat, der mit roten Zwiebeln zubereitet und als Beilage zu nahezu allen Speisen serviert wird. Mein Hauptgericht heute ist das chiloésche Nationalgericht, der Curanto en Hoyo, ein Muschel- und Fleischeintopf. Traditionell wird das Gericht in einem Erdloch (Hoyo) auf heißen Steinen zubereitet. Dazu werden in Schichten verschiedene Fleisch- und Fischsorten, Meeresfrüchte und Kartoffeln in unterschiedlichen Varianten aufgeschichtet, mit großen Blättern abgedeckt und mit weiteren heißen Steinen bedeckt (Ähnlich dem Lovo auf Fiji). Am Abend wird der Tag mit einer Portion Humitas (gedämpfter Maisbrei in Maisblättern) abgerundet, die ich ja schon in Punta Arenas kennen und schätzen gelernt habe.
Am nächsten Tag fahre ich nach Queilen, einer Gemeinde ca. 40km südlich von Castro. Die Ortschaft lebt vor allem von der Muschelzucht. Touristen kommen dort eher zufällig hin. Entlang des Strandes gibt es wieder eine „Promenade“, die aber auch hier etwas verloren und vom Wetter angeknabbert ein tristes Dasein fristet. Vom Ortskern führt ein alter Steg hinaus ins Meer. Er ist baufällig und mit einem rot-weißen Absperrband abgeriegelt. Trotzdem setze ich mich dort zu einigen älteren Männern auf eine Bank und schaue hinaus auf die Muschelzuchtanlagen und in die andere Richtung auf die verwaiste Hauptstraße, wo sich gerade sogar die Hunde langweilen und faul in Reih und Glied am Gehsteig liegen. Etwas außerhalb des Dorfes liegt der örtliche Badestrand. Dort gibt es zwar eine Reihe schattenspendender Bäume, einige Bänke zum entspannen, zwei Dixi-Klos und einen Beobachtungsstand für den Bademeister, nur Badegäste sehe ich keine, im Spätherbst der südlichen Hemisphäre. In einem der wenigen Restaurants esse ich- als einziger Gast – noch einen gegrillten Lachs mit Bratkartoffeln und fahre dann mit dem letzten Bus um 19.00 Uhr! wieder zurück nach Castro. Bei Chonchi passieren wir mehrere Aquakulturen in denen Lachse gezüchtet werden. Unterhalten werden sie von einem norwegischen Unternehmen. Kurz bevor wir wieder das Stadtgebiet von Castro erreichen passieren wir eine Bootswerft, in der stattliche Holzboote in Handarbeit hergestellt werden.
Am Nachmittag meines letzten Tages auf der Insel laufe ich den Strand entlang und beobachte im Hafen drei Seelöwen, die mich eine Weile mit ihren Tauch- und Schwimmeinlagen unterhalten. Danach setze ich mich auf einer kleinen Anhöhe auf einen Fels und schaue hinunter auf das Meer. Tatsächlich zieht dann doch noch Stück für Stück der in der Reiseliteratur so oft beschriebene Nebel auf. Doch das Caleuche bekomme ich auch an diesem Tag nicht zu sehen. Nach ein paar Minuten ist der Nebel wieder verschwunden und die Sonne gewinnt die Oberhand. Der Blick auf das Meer und die dem Festland vorgelagerten Inseln wirkt mit ihr im Rücken wie eine Infusion an Glückshormonen. Dieses Eiland in diesen Farben zu dieser Tageszeit ist einfach atemberaubend schön. Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich im Internet gelesen habe: 2007 hat das amerikanische Magazin „National Geographic Traveller“ mit Hilfe einer Jury aus Fachleuten (Geographen, Tourismusforscher, etc.) ein Ranking von 111 Inselparadiesen gemacht. Chiloé erreichte dabei den dritten Platz! Ich kann dieser Einschätzung nur beipflichten. Am Rückweg durch die Straßen der Stadt sehe ich die ersten Vorboten des nahenden Winters. Riesige Feuerholzhaufen liegen auf den Gehsteigen und warten darauf in die Keller geschaufelt zu werden.
Als ich am nächsten Morgen über den zentralen Platz zum Busbahnhof laufe, sehe ich wieder die „Künstler auf Wanderschaft“, die gerade ihre Verkaufsdecken ausbreiten. Es sind vor allem junge Leute im Alter von 20 bis 30 Jahren, auch Familien mit kleinen Kinder, viele im Flower-Power-Outfit der 60ger Jahre. Einige ein bisschen up-gedated mit Rastahaar, Rucksack und Smartphone. Auf den Decken und Matten bieten sie Freundschaftsbändchen, Schmuck, Gemaltes und Geschnitztes an, das sie, während sie auf Kunden warten, in Handarbeit herstellten. Ein paar Meter weiter spielt ein Pärchen auf der Gitarre spanische Folklore und daneben übt sich ein junger Mann im Jonglieren, um bei der nächsten Rotphase wieder mit seinen Kegeln auf die Straße zu springen und die wartenden Autofahrer mit seinen Kunststückchen zu unterhalten und dafür ein paar Pesos in die Hand gedrückt bekommt.
Als ich in Quellón ankomme, liegt die Fähre, die nur zweimal die Woche fährt, schon im Hafen. Um 17.00 Uhr startet sie schließlich nach Puerto Cisnes in Westpatagonien, meinem Einstieg in den nördlichsten Abschnitt der Carretera Austral.