Die Autofähre ist bis auf den letzten Platz belegt. Im Abstand von 50cm stehen PKWs, LKWs und Busse in Reih und Glied, eng aneinander. Auch der Passagierraum ist gut gefüllt. Die chilenischen Fähren machen auf mich einen guten bzw. sichern Eindruck. An Board befindet sich wieder ein kleines Restaurant, die Sitze sind bequem, die Toiletten sauber und es ist warm, ein nicht unerheblicher Faktor im zumindest abends recht kühlen Patagonien.
Unser Ziel Puerto Cisnes liegt an der Mündung des Rio Cisnes in den Puyuhuapi-Kanal gegenüber der Isla Magdalena. Mit seinen etwa 2500 Einwohnern ist es die größte Gemeinde der Region Cisnes, in der es sonst nur noch kleinere Siedlungen wie Puyuhuapi mit ca. 500 und La Junta mit ca. 900 Einwohnern gibt. Nachdem wir gegen elf Uhr auf der Insel Guaitecas einen Zwischenstopp eingelegt haben, erreichen wir Puerto Cisines um 5 Uhr am Morgen. Als wir aussteigen fängt es an zu regnen. Es ist kalt und dunkel. Es gibt weder ein Hafengebäude noch hat irgend eine Gaststätte oder ein Café um diese Uhrzeit geöffnet. Ich stelle mich am Café MIEVIEJO an der Hafenstraße unter, da ist es zumindest trocken. Ein chilenisches Pärchen gesellt sich zu mir unter das kleine Vordach. Ich lege meinen Rucksack auf den Tisch, der auf einer kleinen Veranda steht. und setze mich auf die Bank dahinter. Ich bin müde. Nach und nach durchdringen Kälte und Feuchtigkeit jeden Zentimeter meines Körpers. Ich ziehe mir eine lange Unterhose und noch zwei Pullover unter. Langsam weicht die Nacht dem Tag. Es hat auch aufgehört zu regnen. Mir ist immer noch kalt. Ich laufe ein Stück die Straße hinauf und wieder zurück. Um 7.30 Uhr regt sich endlich etwas in dem Haus. Die Besitzerin ist im Morgenrock zu sehen. Sie erschrickt, als sie uns dort draußen auf ihrer Veranda stehen sieht. Die beiden Chilenen bitten sie uns aufzumachen. Fünf Minuten später kommt sie mit Feuerholz unter den Armen zurück und schließt uns auf. Im Gastraum ist es nur etwas wärmer als draußen. Sie schürt den kleinen Kanonenofen an, schnell wird es angenehmer in dem kleinen Café. Sie macht uns Kaffee mit heißer Milch, dazu gibt es Plätzchen. Jetzt sieht die Welt schon ein bisschen besser aus. Die Chilenen bieten mir an, ein Taxi mit Ihnen nach Puyuhuapi zu teilen. Aber es ist Sonntag und auch die Taxifahrer haben heute frei. Der nächste Bus fährt erst morgen früh, wieder um 5.00 Uhr. Ich suche mir ein Hostal. Das Laoque Antu liegt zwei Block vom Hafen entfernt und ist richtig gemütlich. Das Personal ist sehr freundlich und das Steak im Restaurant schmeckt ausgezeichnet. Nach dem Mittagessen laufe ich den Strand entlang. Außer ein paar Kindern, die auf dem ganz aus Beton gebauten Spielplatz tollen, ist niemand auf der Straße zu sehen. Überall liegen kleine Holzboote. Unter dem mit dunklen Wolken behangenen Himmel fühle ich mich wie auf einen Schiffsfriedhof. In der Nähe der Kirche finde ich einen Minimarkt. Die Auslage in den Regalen erinnert mich an die Supermärkte zu sowjetischen Zeiten in den Ländern des ehemaligen Ostblocks. Ich kaufe mir eine Flasche Wasser, eine Tafel Schokolade und ein paar Äpfel. Nach der nahezu schlaflosen Nacht auf dem Schiff falle ich in meinem Einzelzimmer am frühen Abend wie ein Toter ins Bett.
Den Bus um 5.00 Uhr tue ich mir aber nicht an. Vielmehr starte ich nach dem Frühstück, das wieder einmal inbegriffen ist, um 11.00 Uhr und laufe zum Ortsausgang, um nach Puyuhuapi zu trampen. Schon nach 15 Minuten bekomme ich einen Lift. Nach fünf weiteren Minuten steigen noch zwei Belgier zu. Die ersten Belgier, die ich bis jetzt auf meiner Reise getroffen habe. Nach 20Km werden wir abgesetzt. Die letzten acht Kilometer laufen wir zu Fuß bis zur Straßenkreuzung, wo die Straße von Puerto Cisnes in die Carretera Austral mündet. Wenngleich der spektakulärere Teil südlich von Coyhaique liegt. Aber das muss bis zum nächsten mal warten. Die noch nicht fertig gestellte Straße ist an die 1300km lang. Der landschaftlich reizvollere und unerschlossenere Teil liegt aber südlich von Coyhaique. Diesen Abschnitt schaffe ich dann wohl erst beim nächsten Mal.
Die Straße führt entlang eines tief eingeschnittenen Flusstals. Bis wir an der Kreuzung ankommen passiert uns kein einziges Fahrzeug. Einzig das Rauschen des Gebirgsbaches und hier und da Vogelgezwitscher sorgen für etwas Leben entlang der Straße, die das Nirgendwo mit dem Irgendwo verknüpft. An der Kreuzung warten schon einige Leute, um in eine der drei Richtungen – Puerto Cisnes, Coyhaique oder nach Puyuhuapi mitgenommen zu werden. Nach zwei Stunden hält ein 4-WD mit drei im Straßenbau tätigen Herren an und nimmt mich mit Richtung Norden. Auf der Schottenpiste geht es zunächst zehn Kilometer kräftig bergauf, dann wieder über Serpentinen steil nach unten. Die Straße wirkt wie in die Landschaft hinein gefräst. Einen Meter links und rechts der Fahrbahn beginnt dichter Urwald. Die Piste ist mit knietiefen Schlaglöchern übersät. Von den Bergen herab strömende Bäche hinterlassen derart tiefe Rinnen in der Fahrbahn, dass wir sie wir Zentimeter für Zentimeter durchfahren müssen. Weiter unten rücken die Berge wieder näher an die Straße heran, der Primärwald wird lichter. Immer wieder liegen größere Steine und ganze Felsen auf der Straße. Ungefähr zwanzig Kilometer von unserem Ziel kommen wir plötzlich zum Stehen. Vor uns reihen sich bereits an die zwanzig anderer Autos. Meine Fahrer teilen mir mit, dass die Straße jeden Tag zwischen 13.00 und 17.00 Uhr geschlossen ist. Es wird gesprengt und schweres Gerät räumt die Piste. Mein Nachbar auf der Rückbank bietet mir eine Dose Bier an. Auch nicht der schlechteste Weg die Wartezeit zu überbrücken. Es geht pünktlich weiter. Mittlerweile sind wir zu sechst. Ein deutsches Pärchen gesellt sich zu uns. C. und G. haben den hängenden Colgante Gletscher, ca. 20km südlich der Siedlung besucht. Um eine Mitfahrgelegenheit zurück nach Puyuhuapi zu bekommen, fragen sie sich durch die stehenden Autos. Unser Fahrer hat ein großes Herz und nimmt auch noch die beiden mit. Nach ein paar Kilometern verlassen wir den Wald und fahren an einer Küstenlinie, teilweise durch Tunnels, weiter Richtung Norden. Bald erreichen wir die Thermalquellen und nach der nächsten Biegung die Siedlung Puyuhuapi, malerisch gelegen am Ende des Seno Ventisquero Fjords.
Die Ortschaft wurde 1935 von deutschen Einwanderern mitbegründet und zeigt auch heute noch viele Spuren der alemannischen Siedler: Eine deutsche Schule, das Hopperdietzel Bier und die Teppichfabrik Alfombras und nicht zu vergessen das unter Denkmalschutz stehende Siedlungshaus Casa Ludwig.
Da ich noch keine Bleibe für die nächste Nacht habe, folge ich dem Rat meiner neuen Begleiter und frage im Casa Ludwig nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ich habe Glück und beziehe das letzte frei Zimmer. Es ist unter dem Dach, klein aber fein. Das Haus liegt auf einer kleinen Anhöhe, an der Avenida Otto Uebel, gleich am Anfang der Ortschaft. Die Besitzerin ist Frau Ludwig, die Tochter eines der beiden sudetendeutschen Abenteurer, die im Jahre 1935 mit einem Boot hier landeten und die Bucht als eine der ersten besiedelten. Sie hat in den 70er Jahren in Deutschland studiert und dann noch eine Weile dort gelebt. Seit Anfang der 90er Jahre lebt sie wieder in der Ortschaft und betreibt seitdem die Pension in ihrem Elternhaus. Das alte ehemalige Bauernhaus mit seinem großen Wohnzimmer und endlos scheinenden Bücherregalen und einem Esstisch für eine ganze Fußballmannschaft, einem gemütlichen Holzofen, einer geräumigen – nostalgischen – Wohnküche, wie ich sie noch aus den Zeiten meiner Oma kenne, machen die 15 Stunden, die ich dort verbringe zu einem richtig gemütlichen Homestay. Frau Ludwig hat ein Buch über die Geschichte Puyuhuapis geschrieben und ist auch sonst eine sehr engagierte Frau. Die Pension will sie aber verkaufen, um sich dann gesellschaftlich intensiver in der Gemeinde zu betätigen. „Es gibt soviel zu tun“ sagt sie uns am Frühstückstisch. Auch wenn Chile ein teilweise modernes und wirtschaftlich relativ gut funktionierendes Land ist, so liegen doch im Detail viele Dinge im Argen. Angefangen vom Lohnniveau, der medizinischen Versorgung, über die Infrastruktur bis zur immer wieder anzutreffenden Korruption.
Als es anfängt zu dämmern laufe ich noch durch die Ortschaft. Überall treffe ich auf deutsche Straßennamen, deutsche Restaurationen und Pensionen. Einerseits ist alles sehr beschaulich, andererseits wird an jedem Ende gewuselt: Es werden Wasser- und Stromleitungen verlegt, alte Straßen modernisiert und Brücken gebaut. Nicht nur wegen der am Ortsrand liegenden Thermen wird die Infrastruktur der Siedlung aufwendig aufpoliert. Puyuhuapi liegt schließlich an der Carretera Austral, einem der letzten großen Abenteuer Südamerikas. Aber auch das wird wohl bald Geschichte sein.
Am nächsten Morgen schaffen wir drei es gerade noch so den Bus nach Chaitén zu erreichen. Über Schotter und wenig Asphalt geht es weiter Richtung Norden. An einem Zwischenstopp gesellt sich eine weitere Deutsche zu uns. E. ist auch schon eine Weile in Südamerika unterwegs und will weiter nach Norden. Mit ihr zusammen mieten wir uns in einem kleinen Hostel in der Ortschaft ein. Am Abend gehen wir zusammen in einem kleinen Lokal Essen und verbringen einen sehr kurzweiligen, lustigen und thematisch interessanten Abend, als hätten wir die letzten 20 Jahre nichts anderes als das gemacht. Am nächsten Morgen gehe ich sehr früh zur Bushaltestelle. Ich benötige noch ein Ticket für den Bus um 10.00 Uhr nach Puerto Varas. Aber als ich dort ankomme, ist der Bus schon bis auf den letzten Platz ausverkauft. Ein Angestellter der Busgesellschaft erklärt mir, dass die Überlandbusse in Chile bis zu zehn Personen stehend befördern dürfen; wenn sich der Fahrer damit einverstanden erklärt. Also warte ich bis der Fahrer kommt. Meine Chancen stehen nicht so schlecht, ich stehe an Platz sechs der Warteliste. Nach einer Stunde bangen Wartens gibt der Fahrer schließlich seine Zustimmung und ich stehe mit neun anderen Passagieren die sechs Stunden im Bus. Abwechslung bekommen wir nur in den vier Stunden, die wir auf Fähren verbringen, um weitere Fjorde, Buchten und Flüsse zu überqueren. Das Wetter ist gelinde gesagt durchwachsen: Ein beißender Nordwind, immer wieder Regen und gegen Abend auch noch kalte Temperaturen verschlechtern meine Stimmung zusehends.
Um 21.00 Uhr erreiche ich übermüdet und körperlich am Ende den Busbahnhof von Puerto Montt. Von dort fahre ich weiter mit einem Mini-Van nach Puerto Varas, wo ich um 22.00 Uhr erschöpft das Haus meines Airbnb-Hosts erreiche, bei dem ich schon das letzte Mal übernachtet habe. Ich öffne das Holztor, gehe ans Haus und klopfe an die Tür. Aber es scheint niemand da zu sein. Ich klopfe stärker bis schließlich eine ältere Dame die Tür öffnet, die sich als die Schwiegermutter des Hausherrn herausstellt. Anscheinend ist meine Reservierung irgendwie verloren gegangen, aber nach einigem hin und her bekomme ich schließlich wieder das gleiche Zimmer wie vor drei Wochen.
Am nächsten Morgen fahre ich mit dem Bus zum Flughafen nach Puerto Montt und fliege mit der Billig-Airline Sky für 110 Euro zurück nach Punta Arenas, wo der 8-tägige Treck durch den Torres del Paine Nationalpark auf mich wartet.