Am 30.1. starte ich um 8.30 Uhr mit dem Bus nach Ushuaia. Die ersten zwei Stunden geht es Richtung Norden, dann setzen wir mit der Fähre nach Feuerland über. Als wir die Insel betreten prangt ein großes Schild: „Fin del Mundo“, das Ende der Welt.

Wir fahren zunächst weiter auf der chilenischen Seite durch eine trostlose Steppenlandschaft, in der es kaum Bäume und Büsche gibt, hier und da eine Estancia, eine der großen Farmen, die sich mit Viehwirtschaft über Wasser hält. Dann geht es über den einzigen Grenzübergang auf die argentinische Seite und weiter bis an die südlichsten Ausläufer der Anden. Schließlich erreichen wir mit zwei Stunden Verspätung nach insgesamt 12 Stunden die südlichste Stadt der Welt, Ushuaia. Sie liegt mit 54° 48′ südlicher Breite in etwa soweit vom Südpol entfernt wie Moskau vom Nordpol. Trotzdem sind die Winter härter und die Sommer nicht existent. Die Wassertemperatur an der Bucht der Stadt schwankt zwischen vier und sieben Grad pro Jahr, die Luftfeuchtigkeit zwischen 70 und 80%, es hat einige Regentage weniger als Fürth und auch der Jahresniederschlag ist mit ca. 550 mm noch einmal niedriger als in Mittelfranken. Die Stadt hat ca. 57.000 Einwohner.

Der Sohn meines neuen Hosts erwartet mich schon und bringt mich mit dem Taxi in die Unterkunft, die drei Kilometer von der Innenstadt entfernt liegt. Am nächsten Tag erkunde ich das Städtchen, das Zollfreigebiet und eine steuerfreie Zone ist: Die Gehälter sind höher als im restlichen Teil Argentiniens, ebenso die Lebenshaltungskosten. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen hier am südlichsten Ende der Zivilisation sind beschwerlich. Für Argentinien hat Ushuaia sowohl wirtschaftlich wie auch strategisch eine große Bedeutung. Die chilenische Seite hingegen hat mit Ausnahme des Städtchens Porvenir, das sich mit der Fähre in gut zwei Stunden von Punta Arenas aus erreichen lässt, keine weitere nennenswerte Siedlung auf Feuerland. Erst noch weiter südlich, auf der Insel Navarino liegt die „südlichste Gemeinde der Welt“, Puerto Williams.

Am nächsten Tag unternehme ich eine Tageswanderung auf den Cerro Guanaco. Am Busbahnhof nehme ich einen Bus zum Nationalpark (250 ARP). Der Eintritt in den Park kostet noch einmal einmal 350 ARP). Der Bus setzt mich am dritten Stopp am Lago Roca ab. Die ersten eineinhalb Stunden führen durch Laubwald, dann geht es weiter durch eine feuchte Gebirgssteppenlandschaft und schließlich die letzte halbe Stunde über eine Schotterfläche hinauf zum Gipfel. Obwohl der Berg nur knapp 1000m hoch ist, hat man von hier oben einen ausgezeichneten 360° Panoramablick auf die umliegenden Berge, Fjorde, Täler, auf Ushuaia, den Beagle-Kanal und bis hinüber nach Navarino. Nach einer Weile gesellt sich zu unserer kleinen Gruppe ein kleiner Polarfuchs hinzu. Er scheint an Wanderer gewöhnt zu sein und hätte wohl gerne ein paar Happen zum Fressen abbekommen. Mehrere Male kommt er bis auf wenige Meter an uns heran, bis er schließlich aufgibt und plötzlich auch wieder verschwunden ist. Wenig später kommt starker Wind auf, es wird empfindlich kühler und wir machen uns wieder auf den Weg hinunter zur Busstation, um den letzten Bus um 17.00 Uhr zurück in die Stadt zu erreichen.

In der Nacht wird es richtig kalt. Bis auf 600m fällt Neuschnee, für mein Bett muss ich mir ein paar Extradecken organisieren. Am nächsten Tag erkunde ich die Stadt wieder zu Fuß. Durch Zufall stoße ich auf einen Carrefour Markt, in dem ich mir anständige Schokolade und Zahncreme kaufe. Danach laufe ich zum Yachthafen, wo einige Boote liegen, die auf gutes Wetter warten, um dann ihren Törn in die Antarktis zu starten. Ich versuche eine Mitfahrgelegenheit nach Puerto Williams zu bekommen, aber niemand will mich mitnehmen. Das liegt vor allem daran, dass letztes Jahr die Regelungen für den Grenzübertritt nach Chile verschärft wurden. Seitdem dürfen nur noch staatlich zertifizierte Reiseunternehmen den Transport durchführen, erklärt mir ein Angestellter des hiesigen Yachtclubs. Von Ushuaia kann man auch Fahrten auf Expeditionsschiffen in die Antarktis buchen. Für acht bis 10 Tage (Jeweils zwei Tage An- und Abreise) muss man für ein kleineres Schiff um die 4000 Euro und für die luxuriöseren größeren bis zu 10.000 Euro veranschlagen. Auf dem Weg zur Innenstadt treffe ich auf einen „Denkmalpark zum Falklandkrieg“. Der mit den Briten gefochtene und verlorene Krieg hat die Argentinier traumatisiert. Die beteiligten, noch lebenden, aber vor allem die gefallenen Soldaten werden zu Helden stilisiert. Nach argentinischen Verständnis ist der Anspruch Großbritanniens auf die Inseln illegal. Es fängt zu regnen an. Um die Zeit zu überbrücken setze mich in ein Café und trinke heiße Schokolade und esse einen Apfelkuchen dazu. Aber der Regen ist hartnäckig und wird im Laufe des Nachmittags sogar noch heftiger. Auf meinem Rückweg treffe ich wieder an jeder Ecke auf wilde Hunde. Einige Male wechsle ich langsam die Straßenseite, einmal wähle ich gar eine andere Straße, weil mir der Hundeauflauf echt zu heftig ist. Als ich meine Unterkunft erreiche, läuft die Heizung zum Glück bereits auf Hochtouren. Auf meine Hundeerfahrungen angesprochen, sagt mein Host süffisant, dass es das Gerücht gäbe, in der Stadt lebten mehr Hunde als Menschen.

Am nächsten Tage kaufe ich mir ein Ticket für die Bootsfahrt nach Puerto Williams. 110 Euro. Der Kreditkartenbetrag muss in Euro angegeben werden. Danach streife ich noch ein wenig durch die Stadt, vorbei am Marinestützpunkt und einem ausgedienten Militärareal, auf dem noch Fliegerabwehrkanonen stehen und einige kleine Bunker, die in der Zwischenzeit von Graffitikünstlern entdeckt worden sind. In der Innenstadt gibt es noch viele ältere, traditionell gebaute Häuser. Sie haben eine eigenartige Form, schauen eher wie Zelte aus meiner Jugend aus. Als Unterkonstruktion dienen Balken, die einmal längs und quer verlegt sind. Auf dem darauf genagelten Bretterboden beginnt direkt das Dach. Meist befindet sich der Wohnraum und die Küche im Erd- und das Schlafzimmer im Obergeschoss. Aber diese Hausform ist beileibe nicht die einzige in der Stadt. Vielmehr treffe ich auf etliche schräge, schöne, aber auch seltsame und abenteuerliche Gebäudeformen.

Ushuaia ist ein Typus Stadt wie Punta Arenas, aber man merkt auch die 500 km südlichere Lage. Es gibt noch weniger Autos, noch weniger Verkehr und die Straßen sind teilweise in einem miserablen Zustand. Die meisten Gebäude sind wieder eher zweckmäßig als ästhetisch. Das Stadtleben findet maximal in Zeitlupe statt. Aber es ist eben das Ende der Welt. Für mich fühlt es sich auch ein wenig so an: melancholisch, teilweise morbid, verlassen und einsam. Aber genau das habe ich auch erwartet. Die meisten Menschen, die hier leben sind entweder Soldaten oder Verwaltungsangestellte und Leute, die hier für eine bestimmte Zeit nahezu das Doppelte verdienen wollen wie die Menschen in Restargentinien. Der finanzielle Aspekt und das Gefühl von Sicherheit, Ruhe und das Leben inmitten von überaus freundlichen und hilfsbereiten Menschen waren die meistgenannten Gründe, die mir Leute nannten, wieso sie gerade hier lebten. Die langen Winter, fehlenden Sommer und die kurzen Phasen von Frühling und Herbst wären für mich auf Dauer zu heftig und würden mich über kurz oder lang wieder Richtung wärmere Regionen treiben. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie lebensfeindlich hier unten der Winter sein mag, wenn der kalendarische Hochsommer doch schon so seine unangenehme Seite hat.

Am nächsten Morgen fahre mit zehn anderen „reichen Europäern“ mit dem Boot nach Puerto Navarino auf der Insel Navarino. Den argentinischen Ausreisestempel bekomme ich an der Zollstation im Gebäude der Hafenverwaltung. Die kleine Siedlung besteht nur aus wenigen Häusern und einem Friedhof und hat nur eine Bedeutung als Grenzstation mit chilenischer Zollabfertigung. Nach den vier Tagen in Ushuaia dachte ich, einsamer geht nimmer, aber das hier ist so richtig im Nirgendwo, wenngleich ein äußerst malerischer Ort. Danach geht es mit einem Kleinbus noch einmal eine Stunde weiter bis nach Puerto Williams. Insgesamt dauert die Reise mit der verspäteten Abfahrt, der Zollprozedur und der Busfahrt an die vier Stunden. Die eigentliche Überfahrt war schon nach 20 Minuten wieder vorbei.

Puerto Williams hat nach chilenischer Regelung kein Stadtrecht. Es bezeichnet sich deshalb auch als die südlichste Gemeinde der Welt, zurzeit leben hier etwa 2000 Menschen. Ich laufe am Nachmittag noch ein wenig durch die Siedlung. In einer halben Stunde bin ich durch, aber trotzdem gibt es auf diesem kleinen Raum einiges zu erkunden. Das interessante historische Museum, den kleinen Yachthafen, die Eingeborenensiedlung Ukika, die südlichste – ehemalige – und aktuelle – Kirche der Welt, eine Handvoll Gaststätten, ebenso viele Hostels, einen „Supermarkt“, wenige Minimärkte und am zentralen Platz einige Souvenirläden mit Andenken, die eher für den Flohmarkt geeignet wären, als für den Verkauf an Touristen.

Außer Endiviensalat wird auf der Insel nichts angebaut, die Calafate Beere wächst wild, aus ihr machen die Einheimischen vor allem Marmelade. Viehzucht wird allenfalls marginal betrieben, mir sind nur einige Pferde aufgefallen. Die am häufigsten anzutreffenden Tiere sind wie gehabt die wilden Hunde, allerdings haben sich hier auch einige Katzen ihre Reviere erkämpft. Die einzige Verbindung zur – chilenischen – Außenwelt stellt das Versorgungsschiff YAGHAN dar, das zwei bis dreimal die Woche zwischen Puerto Williams und Punta Arenas pendelt und neben einigen Touristen die einheimischen Pendler, Kurzurlauber aber vor allem nahezu alle benötigten Dinge des Alltags auf die Insel bringt, angefangen von Lebensmitteln, Kleidung, Kosmetika, über Baumaterialien bis hin zu Treib- und Brennstoffen und natürlich Fahrzeugen jeglicher Art. Einen öffentlichen Nahverkehr gibt es auf der Insel nicht. Aber das Trampen ist eine sehr gut funktionierende Alternative der Fortbewegung. Mein Abendessen nehme ich dann bei Patty ein, die ein kleines Hostel mit drei Zimmern betreibt.

Am Hafen sitze ich am nächsten Morgen im Puerto Luisa Café, einem der wenigen „touristentauglichen“ Etablissements im Ort. Der Tourismus steckt auf Navarino noch in Kinderschuhen. In dieser Saison sind allerdings mehr Bergwanderer hier, um den vier- bis fünf-tägigen Dientes de Navarino  Circuit anstatt des übervollen Circuits am Torres del Paine zu laufen. Für mich und die wenigen anderen Backpacker in dem Dorf tut das aber keinen Abbruch. Die Ruhe, Leichtigkeit und Freundlichkeit der heimischen Bevölkerung stecken an und bringen nach dem Hin und Her der letzten Tage auch mir ein wenig Entspannung und Erholung.

Am nächsten Tag mache ich eine Tagestour auf den Cerro Bandera, dem Hausberg von Puerto Williams. Auf dem Weg zum Ausgangspunkt meiner Wanderung stoße ich immer wieder auf stark durchnässte oder aufgestaute Wiesen mit abgestorbenen Bäumen.

Dafür sind tausende von Biber verantwortlich, die sich einst von einer Farm aus Feuerland über den Beagle-Kanal nach Navarino abgesetzt haben. Die ursprünglich aus Kanada zu Zuchtzwecken importierten Prachtstücke, haben sich aber aufgrund der fehlenden natürlichen Feinde und des für sie idealen Klimas innerhalb von Jahrzehnten so stark vermehrt, dass sie hier auf der Insel zu einer wahren Plage geworden sind. Nicht unbedingt für die Einwohner, denn die schätzen deren Fleisch als willkommene Abwechslung in ihrer doch etwas einseitige Küche, sondern vielmehr für die Infrastruktur der Insel. Weite Teile der Ebenen und Täler sind überschwemmt und deshalb nicht zu kultivieren. Straßen werden geflutet und dadurch unpassierbar oder gar beschädigt. Auch der Lebensraum der indigenen Fauna wird dadurch zerstört bzw. kleiner, was zu einem Rückgang ihrer Populationen führte.

Der Weg führt anfangs durch Laubwald, der aber bei 400 Höhenmetern schon wieder aufhört. Darüber wachsen nur noch Gräser und Sträucher und auf dem Gipfel von ca. 600m außer ein paar Nischenbesetzern (Sträuchern, Flechten und Moosen) gar nichts mehr. Der Blick vom Gipfelkreuz mit chilenischer Fahne hinunter auf den Beagle-Kanal und Feuerland ist aber trotz der niedrigen Höhe fantastisch. Der Kanal ist insgesamt um die 240 Km lang und verbindet den Pazifischen mit dem Atlantischen Ozean. Außer zwei Franzosen treffe ich noch auf eine italienische Wandergruppe mit eigenem Guide, die den Circuit in fünf Tagen laufen will. Ich laufe nur den ersten Tagesabschnitt des Wanderweges bis zu einem nahen Bergsee und genieße noch eine Weile den tollen Ausblick auf die herrliche Berglandschaft. Danach machen wir uns wieder auf den Rückweg und am Abend esse ich in einer kolumbianischen Gaststätte Putenschnitzel mit Pommes und trinke ein Austral Patagonia Dark Ale dazu, das von den beiden ersten dunkelhäutigen Menschen, die ich hier in Südamerika zu Gesicht bekomme, serviert wird. Am nächsten Tag mache ich einen Ausflug nach Ukika, einer Siedlung der seit bereits seit 10.000 Jahren hier lebenden Eingeborenen, die sich selbst als Yaghan bezeichnen. Die circa 80 hier noch lebenden Ureinwohner leben in einem trostlosen, etwas herunter gekommenen Dorf am Rand von Puerto Williams. Sie beziehen ihr Einkommen vom Staat und pflegen kaum Kontakte zu den chilenischen Einwohnern der Insel. Einen beeindruckenden Einblick in ihr Leben und ihre Geschichte bekommt man bei einem Besuch im historischen Museum.

Danach laufe ich noch zum Büro der Reederei am Hafen. Überall liegen kaputte und ausgediente Boote herum. Ich hole und bezahle mein Schiffsticket zurück nach Punta Arenas für den nächsten Tag. Alles klappt, die Sorgen waren also unbegründet. Nur die Abfahrt wurde kurzerhand um zwei Stunden auf 14.00 Uhr vorverlegt. Hoffentlich haben das auch die beiden Franzosen, die etwas außerhalb wohnen, mitgekriegt. Sie erzählten mir bei der Wanderung, dass sie ebenfalls mit dem Schiff nach Punta Arenas zurückfahren wollten.

Als ich am nächsten Tag um ein Uhr am Hafen bin, werden bereits die Fahrzeuge verladen. Ich trinke noch einen Kaffee, dann kommt schon der letzte Aufruf an Board zu gehen. Ich mache den Steward darauf aufmerksam, dass noch zwei Passagiere fehlen und ich vermute, dass sie nichts von der vorverlegten Abfahrt wüssten. Er sagte nur, vielleicht haben sie es sich auch anders überlegt. Wir legen also pünktlich ab, ohne die beiden Franzosen. Nachdem wir 20 Minuten unterwegs sind wird das Schiff plötzlich langsamer und macht plötzlich einen U-Turn auf dem sonst menschenleeren Beagle-Kanal. Wir fahren zurück in den Hafen, wo schließlich doch noch die beiden Nachzügler an Board kommen. Wir legen bei strahlenden Sonnenschein und ruhiger See wieder los. Aber der kalte Westwind macht ein längeres Verweilen an Deck unmöglich. Nach zwei Stunden passieren wir die Bucht von Ushuaia. Das Wetter wird schlechter. Die Sonne ist hinter den dichten und dunkelgrauen Wolken verschwunden. Es hat jetzt vielleicht noch um die acht Grad. Ich ziehe mir noch einen Pullover unter, setzte meine Wollmütze auf und hole mir den ersten Kaffee aus der Küche. Mist, es gibt keine Milch. Dann muss eben Zucker ran. Sonst ist dieser Instantkaffee nicht zu genießen. Es ist mittlerweile kurz vor sechs Uhr. Die letzten Fetzen blauer Himmel sind schon vor einer Weile verschwunden. Es fängt an zu regnen und die Temperatur ist weiter gesunken. Die dunkelschwarzen Wolken am Horizont lassen keine Besserung erwarten. Im Gegenteil. Sie hängen noch tiefer über dem Kanal und die Schlieren unterhalb lassen weiteren Regen vermuten. Es ist 19.00 Uhr, der Steward ruft zum Essen: Auf einem Blechtablett mit einigen Vertiefungen werden Spagetti mit Hackfleisch, eine Gemüsesuppe und ein Becher Jogurt kredenzt. Mit der freien Hand nehme mir noch zwei Scheiben Toastbrot und einen Fruchtsaft mit an meinen Tisch im Essensraum. Wir haben in der Zwischenzeit den Parque National Alberto de Agostini erreicht. Seine zwei größeren Gletscher sind noch einige Kilometer entfernt. Kurz vor der Dämmerung erreichen wir den Ersten. Das Wetter wird plötzlich besser. Sowohl auf südlich als auch nördlich von uns strömen Eismassen die Berge herunter. Eine erreicht gerade noch so das Meer. Andere gaben auf halbem Wege auf, wieder andere haben sich schon viel weiter oben geschlagen geben müssen. Ich bleibe bis zum Einbruch der Dunkelheit an Deck. Mittlerweile ist es schon bitter kalt geworden. Meine Füße sind Eiszapfen, meine Hände können kaum noch die Kamera halten. Im Speisesaal steht ein Wasserbehälter mit heißem Wasser, daneben eine Holzschachtel mit Tee und Kaffee. Ich nehme mir einen heißen Tee mit an Deck. Plötzlich taucht ein kleiner Wal vor unserem Schiff auf. Whale watching part four!

Für ein paar Minuten wird es mir wieder ein bisschen wärmer. Doch schließlich streiche auch ich die Segel und gehe wieder nach unten. Vom Stewart werden Wolldecken gereicht. Ich nehme mir gleich zwei. Meine Zehen kann ich immer noch nicht richtig bewegen. Aber jetzt bin ich müde und kuschle mich in meine Decken und versuche zu schlafen.

Die Yaghan ist auf dieser Reise nur mit ca. einem Dutzend Passagieren besetzt. Diese Fahrt ist quasi die Rückfahrt einer Sonderfahrt. Als das Schiff heute ankam, war ein Gas-LKW an Board. Das heißt aber gleichzeitig, dass keine Passagiere mitreisen dürfen. Da die Fahrt auch nicht im üblichen Frachtkalender zu finden ist, sind auch auf dem Rückweg nur wenige Reisende auf dem Schiff. Das ist für uns eine tolle Sache. Die Stimmung im Schlafraum ist entspannt, das Essen ist reichlich und die drei Toiletten bleiben auf dieser Fahrt relativ sauber.

Um acht Uhr wache ich auf. Der in Schräglage gebrachte bequeme Pullmannsessel hat mir einen angenehmeren Schlaf bereitet als befürchtet. Mit neun Stunden bei drei kurzen Unterbrechungen war das für mich schon fast eine normale Nacht. Den kurzen Ausflug heraus aus dem Kanal in den offenen Ozean habe ich scheinbar auch schlafend gut überstanden. Das Wetter ist immer noch regnerisch und kalt. Das Schiff schlängelt sich wie ein Slalomfahrer durch die Dutzenden von kleineren und größeren Inseln weiter Richtung Osten hindurch. Ein entgegenkommender kleiner Seelöwe springt wie ein Delphin mit einer rasenden Geschwindigkeit immer wieder kurz aus dem Wasser, um dann wieder in das kalte Nass abzutauchen. Wir fahren jetzt Richtung Norden durch teilweise nur hundert Meter breite Meerengen, vorbei an Sandbänken und Inseln, auch Feuerland rückt wieder ein wenig näher. Gegen 13.00 Uhr erreichen wir den südlichsten Punkt des Amerikanischen Festlandes. Am Fuße des Felsens warnt ein kleiner Leuchtturm vor dem herausspringenden Fels; auf seinem Gipfel steht weithin sichtbar ein Holzkreuz. Um ein Uhr gibt es Mittagessen. Hühnchen mit Reis und Gemüse, eine Spargelsuppe und eine Orange. Nach einer Stunde erreichen wir an der Festlandküste einen Leuchtturm. Im Osten verschwindet einige Male die Küste Feuerlands am Horizont. Aufgrund der niedrigeren Höhe der Gebirge im Westen kommt immer wieder starker Wind auf und sorgt dafür, dass die See ein wenig unruhiger wird. Es ist fünf Uhr. Ich kann Punta Arenas bereits sehen.

Nach 27 Stunden erreichen wir den Hafen und zwei Stunden später liege ich bereits in meinem Bett, eingehüllt in den vielen warmen Decken, die mir mein Host wieder für die kalten Nächte bereitgelegt hat. Die nächsten Tage verbringe ich mit Blog schreiben, Klamotten waschen und der Erledigung einiger Besorgungen für den Torres del Paine Treck. Ich kaufe mir Alpakahandschuhe und eine Schlafmatte. Das Zelt und den Schlafsack habe ich bei der Buchung gleich mitgemietet. Auf meinem Weg zurück in die Innenstadt sehe ich viele Bushaltestellen, Häuserfassaden und andere Mauern die entweder mit Schriftzügen oder Graffiti – vermeintlich künstlerisch – überarbeitet wurden. Ich gehe ein letztes Mal in die Innenstadt in die Libertador 0´Higgins Straße. Um die Nummern 1000 – 1100 gibt es einige schöne Restaurants. Ich wähle heute Abend das Restaurant Luna. Nicht nur das Essen schmeckt ausgezeichnet, auch das hauseigene Luna-Bier ist sehr lecker. Auf dem Nachhauseweg sehe ich am zentralen Platz ein paar Jugendliche mit ihren BMX-Rädern herum experimentieren. Die Jungs unterscheiden sich gar nicht so von den Gleichaltrigen in Fürth, denke ich mir, Sweatshirt mit Kapuze, eine Käppi aufgesetzt, Kopfhörer obendrüber gestülpt und Kunststückchen auf der Brunnenanlage vorführen. Daneben tanzen zwei Mädchen zur Musik aus ihrem Blockbuster. Irgendwie müssen sie ja ihre Zeit totschlagen, fast am Ende der Welt.

Am letzten Abend vor meiner Abfahrt nach El Calafate werde ich von meiner Hostfamilie noch zum Essen eingeladen. Es gibt eine Spezialität des Nordens, Humitas: Mais, Zwiebeln und Knoblauch werden zu Brei verarbeitet, in die Maisblätter eingerollt und zugebunden und danach eine Stunde in Wasser gegart. Als Vorspeise gibt es Erbsensuppe und als Nachspeise Pudding. Dazu trinken wir zu viert eine Flasche Wein.